Die Zehnte Gabe: Roman
das wilde Land Afrikas.
Den Polarstern im Rücken, wurden sie vom Wind auf eine Linie von undeutlichen dunklen Schatten zugetrieben, die sich aus den schaumgekrönten Wellen erhoben. Schweigend standen sie da und beobachteten, wie sie sich dem Land näherten.
»Das ist Marokko, Jezirat al Maghrib - die Insel, wo die Sonne
untergeht, meine Heimat.« In seinem Ton schwang etwas so Inbrünstiges mit, dass sie sich zu ihm umdrehte. Seine Augen glänzten im Widerschein des Mondes, aber sie leuchteten auch von innen heraus, sodass er ihr in seiner Leidenschaft beinahe dämonisch erschien. Mit einem Schauer wandte sie den Blick ab.
Allmählich nahmen die Schatten Gestalt an. Sie erkannten die Umrisse von Klippen, einen Wellenbrecher, der von der Brandung überspült wurde, einen schlanken Turm, dessen Ziegeldach silbergrün im Mondschein schimmerte, einen Fluss mit breiter Mündung, die auf beiden Seiten von massiven Festungen bewacht wurde. Was immer Cat von ihrem ersten Blick auf den dunklen Kontinent erwartet hatte, es war weder der Beweis für eine solch mächtige, kriegerische Kultur noch ein so schockierender Gegensatz dazu wie dieser durchgeistigte Turm gewesen.
» Slâ el Bali - Salé, die Alte.« Der raïs deutete auf die Siedlung am linken Ufer. Und » Slâ el Djedid - Salé, die Neue, auf der anderen Seite. Ich habe Familie in beiden Städten - unter den Hornacheros im neuen Salé und unter den Anhängern von Sidi Al-Ayyachi in der Altstadt. Das verschafft mir eine besondere Stellung und außerordentliche Vorteile bei meinen Geschäften. Alle werden sich freuen über das, was ich ihnen bringe!« Er rief seiner Mannschaft etwas zu, worauf ein Mann eine Laterne aufleuchten ließ, ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Zur Antwort blinkte ein Licht von der Spitze der Festung auf, und er lachte. »Sie wissen bereits, dass wir einer der ihren sind. Sie erinnern sich gut an dieses hübsche Schiff, und niemand sonst würde es wagen, bei Nacht in den Fluss einzufahren. Selbst im hellsten Sonnenschein ist er tückisch, und deshalb trägt er den friedlichen Namen Bou Regreg.« In seiner Sprache klang es rau wie der Ruf einer Krähe - bu-rak-rak.
»Was bedeutet das?«, fragte sie und musterte voller Angst die vor ihnen aufragende Festung und die unzähligen, in lange Gewänder
gehüllten Gestalten, die auf den Zinnen und zwischen den Geschützen hin und her huschten.
Er dachte einen Augenblick mit gerunzelter Stirn nach. »Yussuf Raïs hat mir einmal gesagt, in eurer Sprache heißt es ›Vater der Spiegelung‹. An friedlichen Tagen, wenn der Fluss so still daliegt wie ein Laken aus Zinn, sieht man den ganzen Himmel darin. Doch man muss sehr vorsichtig sein, wenn man sein Schiff in diese Gewässer lenkt. Unter der schimmernden Oberfläche liegen verborgene Sandbänke, die schon Tausenden von Schiffen das Rückgrat gebrochen haben, und tausend weitere sind untergegangen in seinen kurvenreichen Armen.« Er hielt lächelnd inne. »Ist gut, nach Hause zu kommen, siegreich und mit reicher Beute.« Er schloss die Augen, strich mit den Händen über sein Gesicht, küsste die rechte Handfläche und berührte dann damit sein Herz. » Schukran li lah .«
Siegreich. Mit reicher Beute. Einer Schiffsladung christlicher Sklaven, von denen die meisten für die Galeeren und Sklavenmärkte bestimmt waren, wenn die Geschichten stimmten, die man sich unter Deck erzählte. Ihnen standen Missbrauch und Schläge, Folter, Zwangskonvertierung und letztendlich der Tod in fremder Erde bevor. Irgendetwas in ihrem Herzen wehrte sich gegen die verwirrenden Gefühle, die er in ihr weckte. Plötzlich sprudelten die Worte aus ihrem Mund, ohne dass sie sie zurückhalten konnte.
»Ihr erzählt mir von den schrecklichen Dingen, die Eurer Familie von den Spaniern angetan wurden, und behauptet, aus Rache im Namen des mohammedanischen Volkes einen heiligen Krieg gegen die Christen zu führen. Doch wenn Eure Religion Euch sagt, es sei rechtens, jemanden so zu behandeln, unschuldige Männer, Frauen und Kinder im Unterdeck eines Schiffes an Schmutz, Krankheiten und Misshandlung sterben zu lassen, dann behaupte ich, dass es eine böse und grausame Religion ist und Euer Gott nicht der meine ist.«
Sie sah die Wut in seinen Augen und das Zittern seiner Faust,
als er versuchte, sich zu beherrschen. In diesem Moment schien die Zeit stillzustehen. Sie starrte ihn an, bis sie glaubte, ihre Beine würden jeden Augenblick nachgeben. Hatte sie, ohne es zu wissen, etwas
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