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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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Zahl der Aktentaschen und Laptops nach zu urteilen waren die Mitreisenden in meinem Abteil Geschäftsleute, und es waren überraschend viele Frauen darunter, manche völlig westlich gekleidet, andere in bodenlangen pastellfarbenen Gewändern mitsamt Hijab, wieder andere ganz ohne Kopfbedeckung. Alle trugen außergewöhnlich viel Make-up - Grundierung, Puder, Lippen- und Konturenstift, Rouge, dicken schwarzen Lidstrich, Lidschatten, Highlighter und Augenbrauenstift - alles sehr fachmännisch aufgetragen, und hochhackige Schuhe dazu. Mit Khol umrandete Augen musterten mich verstohlen: Arme Frau, allein unterwegs, keine Kinder, kein Zeichen eines Eherings und dann auch noch so schäbig gekleidet - hat sie denn keinen Stolz, dass sie so alte Jeans und hässliche Turnschuhe trägt und nicht mal einen Hauch von Make-up? Egal, wie rasch sie den Blick abwandten, einen kurzen Augenblick lang konnte ich ihre Gedanken lesen. Die Männer lächelten mir freundlich zu; vielleicht hatte ich ja auch in ihren Augen Mitleid verdient. Ein junger Mann, der wohl mit seinen Englischkenntnissen protzen wollte, fragte, ob ich zum ersten Mal in seinem Land sei, wie es mir gefiele, ob ich eine Unterkunft in Rabat brauchte, seine Familie nähme mich gern bei sich zuhause auf. Ich erzählte ihm, es wäre mein erster Besuch, das wenige, das ich bisher von Marokko gesehen hätte, sei sehr faszinierend, und ich freute mich darauf, mehr zu sehen. Und ja, vielen Dank, aber
eine Übernachtungsmöglichkeit in Rabat hätte ich schon. Er schien mächtig enttäuscht.
    »Wenn Sie einen Führer brauchen …?«
    »Auch das ist bereits arrangiert.«
    Er sah mich ernst an. »Sie müssen äußerst vorsichtig mit Führern hier in Marokko sein. Manchmal sind sie nicht das, als was sie sich ausgeben. Ich meine, man darf ihnen nicht vertrauen, denn sie erzählen einem die dreistesten Lügen. Es kann ziemlich gefährlich für eine Dame sein, allein zu reisen.«
    Die Frau mir gegenüber sah mich an und hielt mehrere Augenblicke lang meinen Blick fest, bevor sie die Augen senkte.
    »Vielen Dank für den freundlichen Rat«, sagte ich lächelnd. Um zu signalisieren, dass unsere Unterhaltung beendet war, zog ich meinen Rough Guide aus der Tasche und vertiefte mich darin, doch meine Nerven waren angespannt. Ich spürte seinen Blick auf mir wie eine körperliche Berührung, und plötzlich bekam ich eine Gänsehaut. Er ist doch nur nett, sagte ich mir eindringlich, er sorgt sich um dein Wohlergehen.
    Ich trat in den Gang und rief Alison an.
    »Hi, ich bin da.«
    »Wo ist ›da‹?«
    »Im Zug nach Rabat. In zwanzig Minuten kommen wir an.«
    »Alles in Ordnung?«
    Es war beruhigend, ihre Stimme zu hören. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich über ihre Frage nach, fühlte mich dann lächerlich wegen meiner Paranoia und lächelte. »Ja, alles ist okay. Die Leute sind wirklich nett und hilfsbereit. Und wie geht’s dir?«
    »Bestens. Ich wollte dich später auch noch anrufen. Es ist nämlich etwas Verrücktes passiert. Wir haben was gefunden! Du wirst es nie glauben, aber es hat mit Catherines Buch zu tun.«
    Ich wartete, und es kam mir vor, als säße ich auf glühenden Kohlen. Alison sagte etwas, was ich nicht verstand. »Wie? Sag es noch mal.«

    »Entschuldige, es ist nur … Michael ist hier. Ich gebe ihn dir.«
    Pause.
    »Julia?« Michaels Stimme, einen Kontinent entfernt.
    Ich schloss die Augen und dachte an unsere letzte Unterhaltung. »Hau ab«, sagte ich leise.
    »Was? Ich kann dich nicht hören, Julia. Hör zu, du musst zurückkommen. Besorg dir einen Flug für morgen; Anna und ich zahlen ihn dir. Wir brauchen unbedingt das Buch, du würdest nicht glauben, was wir gefunden haben -«
    »Verschwinde aus meinem Leben«, sagte ich und schaltete mit Herzklopfen das Telefon aus.
     
    Ein beleibter Mann in mittleren Jahren mit Umhang und weiter Hose erwartete mich in der Halle des Hauptbahnhofs von Rabat mit einem handgemalten Schild, das die Aufschrift »Mme. Loveit« trug. Ich war schon an ihm vorbei, ehe der Groschen fiel. Um ein Haar hätte ich laut losgeprustet. Ich verkniff mir dieses Bedürfnis und ging ein paar Schritte zurück. »Hallo. Ich bin Julia Lovat.«
    Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten, zahnlosen Grinsen. » Enchanté, Madame. Bienvenue, welcome , willkommen in Marokko.« Er watschelte auf mich zu, schüttelte mir ausgiebig die Hand und nahm mir sogleich die Koffer ab.
    »Sind Sie Idriss el-Kharkouri?«, fragte ich. Er war ganz anders, als

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