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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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Sie naschte an dem geräucherten Fleisch und den Trockenfrüchten, die man ihr zu Mittag gebracht hatte, und es gelang ihr sogar, Geschmack an Oliven zu finden.
    Als es nun wie üblich klopfte, fand sie beim Öffnen nicht nur das Mittagessen auf dem Boden vor der Tür, sondern auch ein paar frische weiße Leinentücher und, sorgsam darauf arrangiert, eine Spule mit feiner schwarzer Wolle und eine Schiffsnadel.
    Erstaunt spähte sie in den Niedergang, doch wer auch immer diese Schätze gebracht hatte, war hastig wieder verschwunden, barfuß und leise. Sie sammelte alles auf, trug es hinein und vertrieb sich den ganzen Nachmittag mit ein paar selbst entworfenen Schwarzstickereien, einem dekorativen Streifen mit Zickzacklinien und Kreisen im Kreuzstich. Anschließend skizzierte sie mit dem Stift einige verschlungene Ranken sowie zwei Vögel. Sie hatte dieses Motiv fast beendet, als der raïs die Kajüte betrat, war jedoch so in ihre Arbeit versunken, dass sie ihn nicht kommen hörte. Als sie aufsah, stand er im Türrahmen, das Licht der Kerzen ließ seine Züge hervortreten und betonte die hohen Wangenknochen und die vollen Lippen. Sein Ausdruck war unergründlich, die Augen lagen im Schatten, nur das Weiße darin war als schmale Linie unter der Iris zu erkennen. Wie lange er dort mit der Hand am Türpfosten gestanden und sie beobachtet hatte, wusste sie nicht. Verlegen legte sie das Tuch beiseite und versteckte den Stolz der Stickerin darunter.
    »Darf ich es sehen?«
    »Es ist noch nicht fertig.«
    Er streckte die Hand aus. Zögernd reichte sie ihm das Tuch und sah zu, wie er es untersuchte, den Stoff hin und her drehte
und es ihr schließlich zurückgab. »Im Islam ist die realistische Darstellung lebendiger Dinge verboten.«
    »Was - auch Pflanzen und Vögel?«
    »Ja, auch Pflanzen und Vögel.« Er sah ihr enttäuschtes Gesicht und fuhr etwas freundlicher fort: »Es gibt eine Geschichte, ein Hadith. Ayesha, das war die Lieblingsfrau des Propheten, berichtet, wie Mohammed eines Tages von einer Reise nach Hause kam und in einer Ecke des Raums einen Wandbehang sah. Sie hatte ihn mit menschlichen Gestalten bestickt. Sofort nahm er ihn ab und sagte: ›Am Tag der Auferstehung wird strengste Bestrafung denen zuteil, die den Versuch unternehmen, von Gott geschaffene Wesen nachzubilden.‹ Derart zurechtgewiesen, nahm Ayesha die Wandbehänge wieder ab, schnitt die Teile mit den menschlichen Gestalten heraus und machte Kissen aus dem Rest.«
    Cat empfand Mitgefühl für Ayesha. Ihr Mann, so schien es, war ein Furcht erregend frommer Mensch gewesen. Sie runzelte die Stirn. »Aber ich versuche ja nicht, diese Dinge neu zu erschaffen; ich zeige nur eine schlichtere Version davon, auf meine eigene Art.«
    »Genau das ist anmaßend.«
    Sie dachte einen Augenblick darüber nach. »Aber ist es nicht nur eine andere Art, Gottes Schöpfung zu huldigen? Für sich darüber nachzudenken?«
    Der raïs schloss die Augen und überlegte. Nach einer Weile sagte er langsam: »Im Süden meines Landes, in den Bergen, wo der Stamm meines Vaters herkam, weben die Frauen Bilder von Kamelen und Schafen in ihre Teppiche, aber es sind Bauersfrauen, sie wissen es nicht besser.«
    Cat errötete. »Ich bin keine unwissende Bäuerin! Wo ich herkomme, gilt es als großes Talent, wenn man im Stande ist, die Schönheit der Welt darzustellen.«
    Al-Andalusi betrachtete sie ernst. »Gott ist Schönheit, und er liebt die Schönheit. Kamele sind etwas sehr Schönes, das ist
wahr. Ebenso eine Frau, wenn sie zornig ist. Ich bin nicht sicher, was mir besser gefällt.« Und dann lächelte er und hielt ihren Blick fest, bis sie ihn unbehaglich abwandte.
    Ihre Hände zitterten, und sie wusste nicht, warum. Sie nahm die Leinentücher, die Wolle und ihr kleines Büchlein, drückte sie an sich und fragte: »Wann werden wir in Slâ ankommen?« Sie hatte sich angewöhnt, den Hafen der Barbaren nach deren Art auszusprechen, obgleich es in ihren Ohren hässlich klang.
    »Gestern haben wir Cabo de São Vicente hinter uns gelassen. Wenn der Wind es gut mit uns meint, sind wir heute Abend da.«
    Das war schneller, als sie erwartet hatte, viel schneller. Cat spürte das Blut in ihren Ohren rauschen. »Und was wird dann aus mir?«, fragte sie.
    Das Schweigen spannte sich zwischen ihnen wie ein Stück Draht. Was hätte er antworten sollen? Dass er sie behielte, um sie gegen ein Lösegeld zu ihrer Familie zurückzuschicken? Aber da ihre Mutter und ihr Onkel auf demselben Schiff

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