Die Zehnte Gabe: Roman
Dummes gesagt, das sie für den Rest ihres kurzen Lebens bereuen würde, oder hatte sie einen wunden Punkt berührt, der ihn zum Nachdenken brächte? Gerade als sie glaubte, Letzteres würde überwiegen, rief er einen Befehl, und Sekunden später kamen zwei Seemänner herbeigeeilt und packten sie.
»Ich habe keine Zeit, mit dir zu streiten. Du bist eine Frau. Ich muss mein Schiff in den Bou Regreg steuern und andocken. Du kommst zu deinen Leuten zurück: Dein Los wird auch ihr Los sein. Niemand zweifelt an meiner Religion oder meinem Gott. Niemand beleidigt das Andenken an meine Familie. Ich glaubte, du wärst mit Geld nicht zu bezahlen. Aber du bist wie der Rest, unwissend und ungläubig. Du hättest leben können als Königin im schönsten Haus der Kasbah, jetzt wirst du in Fesseln gelegt wie die anderen.« Mit diesen Worten scheuchte er seine Männer davon und wandte sich von ihr ab.
ACHTZEHN
D er Flughafen von Casablanca war verwirrend. Ströme von Menschen wogten um mich herum, als ich den Terminal erreichte: Reisende mit teuren europäischen Designerklamotten, Männer mit elegant geschnittenen Anzügen und Sonnenbrillen, andere in wallenden Djellabas. Westafrikanische Frauen mit bunt gemusterten Kleidern und fantastisch arrangierten Turbanen, Familien mit Scharen von Kindern und Trolleys, die sich unter der Last von vollgestopften Mülltüten, in Plastik verschweißten Koffern und Pappkartons bogen. Ich kam an einem Raum vorbei, in dem Männer auf Gebetsmatten knieten, begegnete einer Fußballmannschaft in einheitlichen Jogginganzügen und unzähligen schwer bewaffneten Security-Leuten in Militäruniform. Um mich herum summte ein buntes Sprachengemisch. Mein Schulfranzösisch reichte weder für die undeutlichen Durchsagen über die Lautsprecheransage noch die verwirrende Beschilderung. Als ich endlich eine Stunde in der Schlange am richtigen Schalter gestanden hatte, um stockend die Fragen des Grenzbeamten zu beantworten - » Vous voyagez seule, sans votre mari ?« (»Nein, kein Ehemann …« Seine Augen durchbohrten mich.) » Et pourquoi visitez-vous le Maroc? Vous avez la famille ici, Madame (nicht Mademoiselle , wie ich säuerlich bemerkte) ou faisez le business ?« (Nein, bloß Touristin.) » Ou restezvous, qu’est-ce que c’est ›Dar el-Beldi‹, c’est chez une famille que vous connaissiez ?« -, die Gepäckausgabe entdeckt, meine Koffer wiedergefunden hatte und nach draußen in die brütende Hitze gestolpert war, gab es nur noch einen einzigen Wagen am Taxistand. Es war ein Mercedes, und nicht etwa irgendeiner, sondern
eine alte Großraumlimousine. Ungläubig starrte ich sie an. Wahrscheinlich wartet sie auf eine lokale Berühmtheit, dachte ich, aber kaum war ich stehen geblieben, als der Fahrer herausschoss und nach meinem Gepäck griff. Ich leistete Widerstand, ebenso entschieden wie er. » Combien à la gare de Casa Port ?«
»Dreihundert Dirham, weil Sie es sind, Madame«, antwortete er auf Englisch.
»Ich gebe Ihnen zweihundert.«
»Zweihundertfünfzig.«
»Zweihundert.«
Er sah gequält drein. Ich glaubte schon, er würde mir jetzt einen Vortrag über seine hungernden Kinder halten, doch er deutete nur auf den Wagen. »Wie soll ich mit so wenig Geld so einen schönen Wagen in Ordnung halten?«
Darauf gab es keine Antwort, daher zuckte ich nur lächelnd mit den Schultern.
Er seufzte. »So schöne Augen. Nur wegen dieser Augen fahre ich Sie für zweihundert.«
»Mein Zug nach Rabat fährt um fünf. Schaffen wir das?«
» Insha’allah . So Gott will.«
Mittlerweile war ich ziemlich nervös und sah zu, wie meine Koffer im Kofferraum verschwanden, bevor ich auf dem Rücksitz Platz nahm. Als ein zweiter und ein dritter Mann auf sein Rufen hin auftauchten, kramte ich mein Handy aus der Tasche, um notfalls Madame Rachidi im riad anzurufen. Vielleicht konnte sie mir sagen, wie ich mich verhalten sollte oder mir zumindest die Polizei zu Hilfe schicken. Der Fahrer setzte sich ans Steuer, und seine Freunde verschwanden aus dem Blickfeld und gingen um das Auto herum. Ich drehte mich um, voller Paranoia, nur um zu sehen, wie sie den Wagen anschoben. Beim dritten Versuch sprang er geräuschvoll an.
Na wunderbar, dachte ich. Ich bin allein in einem fremden Land - wirklich fremd -, mit einem Mann, der mir schon ein Kompliment zu meinen Augen gemacht hat und zwei Kumpel
neben sich sitzen hat, auf dem Weg in eine Stadt, in der ich noch nie zuvor gewesen bin, in einem Wagen, der jeden Moment
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