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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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zusammenbrechen kann. Vielleicht hatte Alison doch Recht gehabt, jedenfalls kamen mir allmählich Bedenken.
    Sie verwandelten sich in ausgesprochene Panik, als wir die Ausläufer der Stadt erreichten und der Fahrer plötzlich über drei Fahrspuren hinweg ausscherte, um einen unvorhergesehenen Umweg durch die Vororte zu nehmen. Auf der unauffälligen Landstraße, über die wir mit Besorgnis erregendem Tempo gerast waren, hatte nichts darauf hingewiesen, in was für einem Land ich gelandet war, doch plötzlich befanden wir uns in den bidonvilles .
    Der Fahrer musste meinen Ausdruck im Rückspiegel gesehen haben, denn er drehte sich zu mir um, eine Hand noch immer lässig auf dem Lenkrad drapiert, während wir mit gefühlten hundertzwanzig Sachen in der Stunde dahinrasten, und erklärte mir aufmunternd: »Auf der Hauptstraße sind zu viele Polizeikameras. Ständig halten sie einen an, ist sehr teuer.«
    Ich versuchte, mir nicht alles vorzustellen, was einer Frau allein in den Slums von Casablanca schlimmstenfalls passieren konnte, und konzentrierte mich auf die ungewohnte neue Umgebung, die an den Fenstern des schlingernden Wagens vorbeiflog. Zerfallende Lehmhäuser und Wellblechhütten, schmale Gassen aus gestampfter roter Erde dazwischen, die von kleinen schwarzen Ziegen, dürren Hühnern, abgemagerten Katzen und zerlumpten Kindern bevölkert waren. Autos, die unter der sengenden Sonne verrotteten, Unkraut, das durch die verrosteten Skelette von kaputten Fahrrädern wucherte, Leinen mit Wäsche, die in der staubigen Brise flatterte, bunte Teppiche, die über Terrassenmauern hingen, Wellblechdächer mit einem Wald von Satellitenschüsseln. Zwei Männer hockten neben einem Strommast und spielten so etwas Ähnliches wie Dame mit bunten Flaschenverschlüssen und Steinen; andere saßen auf den Treppenstufen, rauchten und starrten vor sich hin. Eine von
Kopf bis Fuß in weiße Baumwolle gehüllte Frau wusch unglaublich große Kleidungsstücke in einer winzigen Blechwanne. Sie hob den Kopf, um uns ohne jede Neugier vorbeifahren zu sehen, und wandte sich dann ungerührt wieder ihrer Aufgabe zu: Offensichtlich war die Großraumlimousine nicht zum ersten Mal zu Besuch in diesem nicht gerade vornehmen Stadtviertel.
    Dann waren wir ebenso plötzlich wieder zurück auf der Landstraße, und die Slums verschwanden in einer Staubwolke. Wenige Augenblicke später rasten wir durch eine völlig modern wirkende Stadt - helle Mietshäuser mit Flachdächern, Schaufenster, Reklametafeln und Ampeln, die allerdings niemand zu beachten schien. Der Lärm der Hupen war ohrenbetäubend: Es schien, als wäre an sämtlichen Staus, Verzögerungen oder haarsträubenden Manövern ein anderer schuld. Zehn Fahrspuren voller Autos vereinigten sich an jeder größeren Kreuzung zu einem unentwirrbaren Knoten. Wenn die Hupen nicht funktionierten, streckten hilfsbereite Fahrer den Kopf aus dem Fenster und klärten die anderen über die elementarsten Straßenverkehrsregeln auf. Dreiräder mit sperrigen Ladeflächen vor dem Lenker - mit Fisch, Gemüse oder Schrott beladen - schlängelten sich haarscharf zwischen Wagen und Bussen hindurch. Manchmal wanderten selbstmörderische Passanten mitten in dieses entsetzliche Durcheinander hinein, doch wir fuhren zu schnell, als dass ich hätte sehen können, ob sie überlebten oder nicht. Wir passierten glitzernde Hotels, schicke Boutiquen, Ausstellungshallen mit Automodellen der internationalen Spitzenklasse, Designerküchen oder Flachbildschirmen. Die drei Männer vor mir schlossen sich der allgemeinen Rushhour-Konversation an, brüllten Flüche, schüttelten ihre Fäuste, drohten anderen mit dem Finger, und die Zauber und Amulette, die am Rückspiegel hingen, schaukelten heftig hin und her.
    Allahs Wille war es, dass ich heil und gesund am Bahnhof von Casa Port ankam, gerade rechtzeitig, um den Zug nach Rabat zu erwischen. Mein Fahrer Hassan entpuppte sich als echter
Schatz, denn er drängelte sich in der Schlange bis ganz vorn vor, um mir ein billet simple zu kaufen, überredete den Wachmann, uns durch die Schranke zu lassen, trug mir das Gepäck bis an den Zug, fand den für mich reservierten Platz und verstaute die Koffer sicher im Gepäckfach über meinem Kopf. Dann schüttelte er mir kräftig die Hand. » Besalama. Allah ihf’dek. Dieu vous protège! Gott sei mit Ihnen!«
    Er weigerte sich standhaft, ein Trinkgeld anzunehmen, und ich blieb mit offenem Mund stehen und starrte ihm staunend und dankbar nach.
    Der

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