Die Zehnte Gabe: Roman
waren, hätte sie nicht einmal gewusst, an wen sie hätte schreiben sollen, geschweige denn, wie ein solcher Brief nach Cornwall gelangen sollte - das ihr jetzt wie eine andere Welt in einer anderen Zeit erschien. Es gab ihren Vetter Rob, und nur er, dem sie so viel bedeutete, hätte sich vielleicht für ihre Freilassung eingesetzt. Doch könnte er mit Lady Harris’ gutem Willen rechnen, damit sie sich bei ihrem Mann für Cat verwandte? Irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass Lady Harris, selbst wenn er sie darum bat, das Wohlergehen eines Mitmenschen am Herzen lag, den sie bestenfalls als Zofe und schlimmstenfalls als leichtfertiges Mädchen ansah. Oder dass Sir Arthur eine solch hohe Summe für eine höchst unsichere Heimkehr zahlte, denn warum sollte er die Kriegskasse eines Feindes aufstocken, wenn es seine Pflicht war, die Küste vor ihm zu beschützen? Die anderen Aussichten, vom raïs an diesen Mann, den er als Sultan bezeichnete, oder an den Höchstbietenden auf den Sklavenmärkten
verkauft zu werden, von denen Dick Elwith gesprochen hatte, waren zu entsetzlich, als dass sie darüber weiter nachdenken wollte. Das letzte Szenario - dass er sie für seinen eigenen Hausstand behielt, wie er es einmal angedeutet hatte, bevor er sie wegen ihrer Tollpatschigkeit beschimpft hatte - ließ sie nicht los. Sie wusste, dass sie auf einen solchen Ausgang nicht hoffen durfte. Im Haus eines Seeräubers zu leben, dessen einziges Ziel darin bestand, ihre Landsleute zu bestehlen und zu ermorden, wäre in den Augen zivilisierter Menschen eine Schande. Doch wenn ihre Pflichten allein darin bestanden, seinen Frauen das Sticken beizubringen, war es sicher besser, Dienerin in diesem fremden Land zu sein, als an einen Fremden verkauft zu werden, der Gott weiß welche finsteren Absichten mit ihr hatte. Bei der Vorstellung zitterte sie am ganzen Leib, und aller Mut verließ sie.
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich habe noch nichts entschieden.«
Sie sah überrascht auf. Er starrte sie an, düster und eindringlich.
»Komm mit, Cat’rin«, sagte er plötzlich und streckte ihr die Hand entgegen. »Du sollst sehen, wie die Sterne über Afrika leuchten und der Mond über der Stadt aufgeht, die meine Heimat ist.«
Er wickelte ein Baumwolltuch um ihren Kopf und ihr Gesicht und ließ nur die Augen für die Blicke seiner Mannschaft frei. Sie fragte sich, warum er das tat, denn er hatte sie noch nie zuvor verschleiert. Doch als sie nun an den Männern vorbeiging, starrte sie keiner neugierig oder gar feindselig an, nein, die Seeleute senkten die Köpfe, und niemand belästigte sie. Sie stiegen den Niedergang hinauf und gingen durch das Mittelschiff bis zum anderen Bug. Über ihnen knatterten die Segel - große weiße Vierecke an den Hauptmasten und elegante dreieckige Treiber am Besanmast -, und am schwarzen Himmel über ihnen hing ein schwerer gelber Mond mit einem leichten Rotstich,
wie von Blut. Jägermond sagen sie bei uns zuhause dazu, dachte Cat, und fragte sich, welches Schicksal er für sie bereithielt. Das Firmament war von Sternen übersät, Tausenden von Sternen, und sie funkelten hell, vor allem einer. Sie spürte, wie ihr Blick immer wieder dorthin wanderte, denn er strahlte wie ein silbernes Leuchtfeuer.
»Der Strahlende«, sagte Al-Andalusi leise. » Al Shi-ra . Die Ägypter nannten ihn Stern des Nils und berechneten mit seiner Hilfe die alljährliche Überflutung des Landes; die Römer nannten ihn Hundsstern. In alten Religionen bewacht er den Weg zum Himmel. Siehst du die große Sternenbrücke direkt darunter?« Und als sie hinsah, konnte sie eine milchweiß leuchtende Fläche erkennen, eine Brücke zwischen Himmel und Erde. »Und da« - er wandte sich zu ihr um und zeigte es ihr - »da im Norden scheint Al Qibla . Mit Hilfe seiner Position finden wir Mekka, die heilige Stadt des Propheten.«
»Aber das ist der Polarstern!«, rief Cat erstaunt. Rob hatte ihn ihr so oft gezeigt, dass sie ihn stets fand. »Ich kenne ihn. Wir nennen ihn auch den Stern der Fischer. Sie benutzen ihn zum Segeln.«
Er lächelte. »Die Seeleute auch. Ich habe mich an vielen Orten der Welt von diesem Stern leiten lassen. In Valetta und Sardinien, Konstantinopel, auf den Kapverden und sogar in Neufundland.«
Für Cat waren es nur Namen, doch sie klangen exotisch und entlegen. Und sie, die nie über den Bartholomäus-Jahrmarkt von Truro hinausgekommen war und sich immer gewünscht hatte, neue Horizonte zu entdecken, blickte jetzt auf
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