Die Zeit der Hundert Königreiche - 4
rächende Avarra eine Matrix fort, und die Welt versank in gnädiger Dunkelheit.
Stunden später begann die Finsternis sich aufzulösen. Bard regte sich, hörte eine einzige Stimme durch den Sturm von Haß und Beschuldigungen und Selbstverachtung, der ihn umtobte.
Bard, ich glaube, du bestehst aus zwei Männern … und diesen anderen werde ich nie aufhören zu lieben …
Melora, die ihn geliebt und geschätzt hatte. Melora, die einzige Frau, in deren Augen er sich nicht selbst vernichtet hatte.
Sogar mein Bruder, sogar Alaric würde mich hassen, wenn er wüßte, was ich getan habe. Aber Melora kennt das Schlimmste von mir und haßt mich nicht. Melora, Melora …
Halb betäubt zog er sich an. Er blickte zu Carlina hin, die in tiefer Erschöpfung auf dem Bett lag. Sie war sogar zu müde dazu gewesen, den schwarzen Mantel über sich zu ziehen. Immer noch trug sie das zerrissene, blutbefleckte Hemd, und ihre Augen waren wund vom Weinen und tief in die Höhlen eingesunken. Er betrachtete sie mit entsetzlicher Angst und dachte: Carlie, Carlie, ich habe dir niemals weh tun wollen; was habe ich getan? Voll Furcht, sie könne erwachen und ihn wieder mit diesen schrecklichen Augen ansehen, schlich er auf Zehenspitzen in den Flur hinaus. Melora! Er konnte nur noch einen Gedanken fassen. Er wollte zu Melora. Melora allein konnte seine Wunden heilen … Aber vor allen anderen Dingen war Bard Soldat, und sosehr er sich wünschte, die Treppe hinunterzueilen und auf sein Pferd zu springen, zwang er sich doch, die andere Richtung einzuschlagen und seine eigenen Räume aufzusuchen.
Paul blickte entgeistert auf, als Bard eintrat. Er wollte sagen: Großer Gott, Mann, ich dachte, du hättest die Nacht mit deiner Frau verbracht, und du siehst aus, als hättest du in einer der Höllen Dämonen gejagt … aber der Blick in Bards Augen ließ ihn verstummen. Melisandra trat in einem Hausmantel ein, das Haar lose aufgebunden, rosig von ihrem Bad. Bard blickte zu ihr hin und gequält wieder weg.
»Bard«, fragte sie mit ihrer süßen, wohllautenden Stimme, »was ist mit dir, mein Lieber? Bist du krank?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe kein Recht … kein Recht, dich zu bitten … « Die Heiserkeit seiner Stimme bestürzte und entsetzte Paul. »Doch … im Namen Avarras … du bist eine Frau. Ich bitte dich, zu Carlina zu gehen. Ich möchte nicht, daß … daß sie noch weiter gedemütigt wird, indem … ihre eigenen Mädchen sie … in diesem Zustand sehen. Ich … « Seine Stimme brach. Er hob die Hand und schnitt ihre weiteren Fragen ab, und Melisandra erkannte, daß dieser Mann völlig am Ende seiner Kräfte war.
Bard wandte sich Paul zu und beschwor einen letzten Rest seines früheren Ichs herauf.
»Bis ich zurückkehre … bis ich zurückkehre, bist du Lord General der Armee von Asturias. Es ist früher eingetreten, als wir dachten, das ist alles.«
Paul öffnete den Mund zum Protest, aber bevor er sprechen konnte, war Bard aus dem Zimmer gestürzt.
Als die Schritte seiner gestiefelten Füße verklangen, wandte sich Paul erstaunt und betroffen Melisandra zu.
»Was, zum Teufel, ist los mit ihm? Er sieht aus wie der Zorn Gottes!« »Nein«, antwortete Melisandra, »wie der Zorn der Göttin. Ich glaube, daß er von Angesicht zu Angesicht dem Zorn Avarras gegenübergestanden hat und daß sie nicht sanft mit ihm umgegangen ist.« Sie schob Pauls Hand zur Seite. »Ich muß zu Lady Carlina gehen. Er hat mich im Namen der Göttin darum gebeten, und diese Bitte darf keine Frau und keine Priesterin jemals abschlagen.«
6.
Bard ritt allein, an sein galoppierendes Pferd geklammert, und auf dem ganzen weiten Weg nach Neskaya konnte er sich kaum im Sattel halten. Er war krank und erschöpft, Schmerz und Verzweiflung hämmerten in ihm wie die Hufschläge auf der Straße, und er wußte nicht, ob er seine eigene oder Carlinas Demütigung so quälend empfand. Die Schande versengte ihm die Seele. Er spürte Carlinas Schmerz, ihre Selbstverachtung, und wunderte sich darüber … Warum haßt sie sich für etwas, das ich ihr angetan habe? Doch er wußte, sie machte sich zum Vorwurf, ihn nicht gezwungen zu haben, sie vorher zu töten. Noch tiefer in sein Inneres hatte sich Melisandras sanfte Stimme gebohrt, als sie fragte: Bard, was ist mit dir, mein Lieber? Bist du krank? Wie konnte sie ihm verziehen haben, sie, der er das Gleiche angetan hatte wie Carlina? Und doch war ihre Besorgnis um ihn echt gewesen. Lag es nur daran, daß er ihren Sohn gezeugt
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