Die Zeit der Hundert Königreiche - 4
behauptete, er sei der Lord General. Es war ihm sogar gelungen, Lord Varzil von Neskaya zu täuschen! Ich halte ihn für einen Hastur Spion. Sollen wir ihn hinausführen und hängen, Sir?«
Melisandra sprang in ihrem dünnen Nachtgewand aus dem Bett, ohne das Glotzen der Leibwächter zu beachten. Sie öffnete ihren Mund zum Sprechen. Und in diesem Augenblick hörte man Rufe auf den Gängen, und ein Bote trat ein.
»Mein Herr und König! Eine Gesandtschaft von den Hasturs unter der Waffenstillstandsflagge ist eingetroffen! Varzil von Neskaya bittet Euch, sie sofort im Thronsaal zu empfangen!«
Die Leibwächter fuhren herum. Bard erklärte: »Unmöglich. Der Thronsaal ist voll von Kranken und Verwundeten; wir werden die Gesandtschaft auf dem Rasen empfangen müssen. Ruyvil … «, sprach er den jüngsten der Leibwächter an, »du kennst mich, nicht wahr? Erinnere dich an den Feldzug nach Hammerfell, als ich bei König Ardrin durchsetzte, daß du mit uns reiten durftest. Weißt du noch, wie sich Beltrans Banner um deine Pike verwickelte?«
»Wolf!« rief der Leibwächter aus. Dann drehte er sich drohend zu Paul um.
»Wer ist dieser Mann?«
Bard erklärte schnell: »Mein Friedensmann - und mein Stellvertreter. Ich hatte eine dringende Sache in Neskaya zu erledigen und ließ ihn hier zurück. Und so wurde er stellvertretend gekrönt … «
Der älteste der Leibwächter – den Bard hatte honausführen und hängen wollen- fragte argwöhnisch: Und auch stellvertretend verheiratet?«
Der junge Ruyvil tadelte ihn: »Sprich nicht so mit dem König, du Idiot, oder dein eigener Kopf wird auf deinen Schultern wackeln! Meinst du, ich kenne den nicht’? Für die Sache damals hätte ich mit einem Fußtritt aus der Armee befördert werden können! Glaubst du, ein Betrüger wüßte darüber Bescheid?«
Paul erkannte das Schlupfloch, das Bard für sie beide offengelassen hatte, und sagte: »Nie hätte ich gewagt, mich in die Ehe meines Königs einzumischen. Er hatte mir Melisandra versprochen, und ich habe sie geheiratet. Seine Majestät … « - er sandte einen schnellen Blick zu Bard hinüber, und die Botschaft war klar: Jetzt sieh zu, wie du aus der Sache herauskommst! - »… hätte Lady Melisandra gar nicht heiraten können, selbst wenn er es gewollt hätte, da er bereits rechtmäßig mit einer anderen verheiratet ist.«
Bards Blick zu Paul verriet deutlich Dankbarkeit. Er befahl: »Geht und sagt den Gesandten, ich werde sie empfangen, sobald ich mich rasiert und angezogen habe. Und richtet das auch Lord Varzil von Neskaya aus.« Als die Leibwächter und der Bote gegangen waren, sagte er zu Melisandra: »Ob du es glaubst oder nicht, ich hatte die Absicht, dich mit Paul zu verheiraten, aber ihr habt mir vorgegriffen. Erlend muß ich für mich verlangen; er ist mein einziger Erbe.« Melisandras Kinn zitterte, aber sie antwortete: »Ich werde ihm nicht im Weg stehen.« Und Bard dachte an seine unbekannte Mutter, die ihn Dom Rafael überlassen hatte, damit er als Edelmann erzogen werde. Waren alle Frauen so selbstlos? Er erklärte barsch: »Ich werde dafür sorgen, daß er sich erinnert, auch dein Sohn zu sein. Und jetzt, verdammt noch mal, kein Geheul noch vor dem Frühstück! Schick mir meinen Leibdiener mit der richtigen Kleidung für eine Audienz! Und, Paolo, schneide dir das Haar! Wir wollen die Ähnlichkeit herunterspielen - du bist immer noch nicht raus aus der Patsche!« Als Bard in den Innenraum gegangen war, legte Melisandra Paul die Hand auf den Arm.
» Ich bin so froh … « Sie lächelte. Er nahm sie in seine Arme. »Was hätte ich anderes tun können?« fragte er. »Sonst wäre ja das Königreich an mir klebengeblieben!«
Und zu seiner völligen Überraschung wurde ihm klar, daß er die Wahrheit gesprochen hatte. Er beneidete Bard nicht. Nicht einmal ein bißchen. Und vielleicht - nur vielleicht - war jetzt alles so geregelt, daß er Bard nicht zu töten brauchte, wenn er selbst am Leben hängen bleiben wollte. Mit dem Bard, den er zuvor gekannt hatte, wäre das niemals möglich gewesen. Aber in der kurzen Zeit, seit Paul Carlina von der Insel des Schweigens entführt hatte, war etwas mit Bard geschehen. Paul wußte nicht, was es war, aber irgendwie war das hier ein anderer Mann. Melisandra, dachte Paul, wußte über diesen Wechsel Bescheid, und vielleicht würde sie es ihm eines Tages er zählen.
Oder vielleicht Bard selbst. Jetzt würde ihn gar nichts mehr wundern. Rasiert, angekleidet, den blonden Zopf mit der roten
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