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Die Zeit der Verachtung

Die Zeit der Verachtung

Titel: Die Zeit der Verachtung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Sapkowski
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leuchtete, war Osten. Sie aber musste nach Westen. Sie musste.
    Die Hitze nahm zu, wurde rasch stärker, bald schon unerträglich. Gegen Mittag litt sie so sehr darunter, dass sie wohl oder übel die Marschrichtung ändern musste, um Schatten zu suchen. Endlich fand sie Schutz: einen großen, pilzförmigen Felsen. Sie kroch darunter.
    Und da bemerkte sie einen Gegenstand, der zwischen den Steinen lag. Es war das restlos ausgeleckte Jadedöschen, das Salbe für die Hände enthalten hatte.
    Sie fand keine Kraft zum Weinen.
     
    Hunger und Durst überwanden Erschöpfung und Resignation. Wankend machte sie sich wieder auf den Weg. Die Sonne brannte.
    Fern am Horizont, hinter dem wabernden Dunstschirm, machte sie etwas aus, was nur eine Bergkette sein konnte. Eine sehr ferne Bergkette.
    Als es Nacht wurde, schöpfte sie mit gewaltiger Mühe 
Kraft
, doch erst nach mehreren Versuchen gelang es ihr, eine magische Kugel zu erschaffen, und die Anstrengung hatte sie so ausgelaugt, dass sie nicht weitergehen konnte. Sie hatte ihre ganze Energie verloren; die Zaubersprüche zur Erwärmung und Entspannung gelangen ihr trotz vielen Versuchen nicht. Das Zaubern von Licht stärkte ihren Mut und ihre Zuversicht, doch die schneidende Kälte zermürbte sie, ließ sie bis zum Tagesanbruch zittern. So erwartete sie ungeduldig den Sonnenaufgang. Sie nahm den Dolch aus der Scheide, legte ihn vorsorglich auf einen Stein, damit er sich mit Tau bedecke. Sie war schrecklich erschöpft, doch Hunger und Durst vertrieben den Schlaf. Sie hielt bis zum Morgengrauen aus. Es war noch dunkel, als sie schon gierig den Tau von der Klinge zu lecken begann. Als es hell wurde, ließ sie sich sofort auf alle viere sinken, um in Vertiefungen und Spalten nach Feuchtigkeit zu suchen.
    Sie hörte ein Zischen.
    Eine große bunte Eidechse, die auf einem Felsblock in der Nähe saß, riss das zahnlose Maul auf, stellte einen imponierenden Rückenkamm auf, plusterte sich auf und peitschte mit dem Schwanz über den Stein. Vor der Echse war eine ganz kleine, mit Wasser gefüllte Spalte zu sehen.
    Zuerst wich Ciri erschrocken zurück, doch sogleich erfassten sie Verzweiflung und wilde Wut. Sie tastete mit zitternden Händen umher und bekam einen kantigen Steinbrocken zu fassen.
    »Das ist mein Wasser!«, heulte sie. »Meins!«
    Sie warf den Stein. Traf nicht. Die Echse sprang auf Pfoten mit langen Krallen hoch, verschwand geschickt in dem Felslabyrinth. Ciri kniete vor dem Stein nieder, saugte den Rest Wasser aus der Spalte. Und da sah sie es.
    Hinter einem Stein in einer runden Nische lagen sieben Eier, die teilweise aus dem roten Sand hervorschauten. Das Mädchen zögerte keinen Augenblick. Kniend fiel sie über das Gelege her, packte eins der Eier und schlug die Zähne hinein. Die ledrige Schale sprang auf und erschlaffte in ihrer Hand, der klebrige Inhalt floß zum Ärmel hin. Ciri saugte das Ei aus, leckte die Hand ab. Das Schlucken bereitete ihr Mühe, und sie schmeckte überhaupt nichts.
    Sie saugte alle Eier aus und blieb auf allen vieren, klebrig, schmutzig, sandbedeckt, mit von den Lippen herabhängender klebriger Masse, wühlte fieberhaft im Sande und stieß unmenschliche, schluchzende Laute aus. Sie erstarrte.
    (Sitz gerade, Fürstentochter! Stütz nicht die Ellenbogen auf den Tisch. Pass auf, wenn du nach der Schüssel greifst, du machst dir die Spitze an den Manschetten schmutzig! Wisch dir den Mund mit der Serviette ab und hör auf zu schmatzen! Bei den Göttern, hat denn niemand diesem Kind beigebracht, wie man sich bei Tische benimmt? Cirilla!)
    Ciri brach in Weinen aus, den Kopf auf die Knie gestützt.
     
    Sie hielt den Marsch bis zum Mittag durch, dann überwältigte sie die Hitze und zwang sie, eine Pause zu machen. Lange döste sie, im Schatten unter einem Felsvorsprung verborgen. Der Schatten spendete keine Kühle, war aber besser als die sengende Sonne. Durst und Hunger ließen keinen Schlaf zu.
    Die ferne Bergkette schien ihr in den Sonnenstrahlen zu funkeln und zu blitzen. Auf den Gipfeln dieser Berge, dachte sie, liegt vielleicht Schnee, vielleicht gibt es dort Eis, es kann dort Bäche geben. Ich muss dort hingelangen, muss rasch dort hingelangen.
    Sie ging fast die ganze Nacht hindurch. Sie hatte beschlossen, sich nach den Sternen zu richten. Der Himmel war voller Sterne. Ciri bedauerte, dass sie im Unterricht nicht aufgepasst und keine Lust gehabt hatte, die Himmelsatlanten zu studieren, die es in der Tempelbibliothek gab. Sie kannte

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