Die Zeit der Verachtung
man vor Durst stirbt? Jeden Augenblick wirst du wahnsinnig werden, und dann ist es zu spät. Dann wirst du nicht mehr imstande sein, damit Schluss zu machen.
Nein. Ich lasse mich nicht unterkriegen. Ich halte durch.
Sie steckte den Dolch in die Scheide. Stand auf, wankte, fiel. Stand auf, wankte, marschierte weiter.
Über sich, hoch am gelben Himmel, erblickte sie einen Geier.
Als sie wieder zu sich kam, erinnerte sie sich nicht, wann sie gefallen war. Sie wusste nicht, wie lange sie gelegen hatte. Sie schaute nach oben. Dem über ihr kreisenden Geier hatten sich zwei weitere zugesellt. Sie hatte nicht genug Kraft zum Aufstehen.
Ihr war klar, dass dies das Ende war. Sie nahm es ruhig hin. Sogar mit Erleichterung.
Etwas berührte sie.
Etwas drückte ihr leicht und vorsichtig gegen den Arm. Nach der langen Zeit der Einsamkeit, da nichts als tote und reglose Steine sie umgeben hatten, bewirkte die Berührung, dass sie trotz der Erschöpfung heftig auffuhr – oder es zumindest versuchte. Das, was sie berührt hatte, schnaubte und sprang weg, wobei es laut aufstampfte.
Ciri setzte sich mit Mühe auf, rieb sich mit den Daumenknöcheln die verklebten Augenwinkel.
Ich bin verrückt geworden, dachte sie.
Ein paar Schritte vor ihr stand ein Pferd. Sie blinzelte. Es war kein Trugbild. Es war wirklich ein Pferd. Ein Pferdchen. Ein junges Pferd. Fast ein Fohlen.
Sie kam zu sich. Sie leckte sich die aufgeplatzten Lippen und hustete unwillkürlich. Das Pferdchen sprang hoch und lief davon, dass die Hufe im Kies schurrten. Es bewegte sich sehr sonderbar, und auch die Farbe war ungewöhnlich – falb oder grau. Aber vielleicht schien es auch nur so, weil das Pferd vor der Sonne stand.
Das Pferdchen wieherte und kam ein paar Schritte näher. Jetzt sah sie es besser. Gut genug, um außer der tatsächlich untypischen Farbe sofort den seltsamen unregelmäßigen Körperbau zu bemerken – kleiner Kopf, ungewöhnlich schlanker Hals, schmale Fesseln, buschiger Schwanz. Das Pferdchen blieb stehen und betrachtete sie, den Kopf zur Seite gedreht. Ciri seufzte lautlos auf.
Aus der gewölbten Stirn des Pferdchens ragte ein Horn hervor, mindestens zwei Spannen lang.
Eine unmögliche Unmöglichkeit, dachte Ciri, während sie weiter zu sich kam und ihre Gedanken sammelte. Es gibt doch auf der Welt keine Einhörner mehr, sie sind doch ausgestorben. Nicht einmal in dem Hexerbuch in Kaer Morhen hat es ein Einhorn gegeben! Nur im
Buch der Mythen
im Tempel habe ich von ihnen gelesen ... Ach ja, und im
Physiologus
, den ich in der Bank von Herrn Giancardi durchgeblättert habe, war eine Illustration, die ein Einhorn darstellte ... Aber das Einhorn von der Zeichnung erinnerte eher an eine Ziege als an ein Pferd, es hatte struppige Fesseln und einen Ziegenbart, und sein Horn war an die zwei Ellen lang ...
Sie wunderte sich, dass sie sich so gut an alles erinnerte, an Ereignisse, die eine Ewigkeit zurücklagen. Plötzlich drehte es sich ihr im Kopfe, die Eingeweide krampften sich schmerzhaft zusammen. Sie stöhnte und krümmte sich. Das Einhorn schnaubte und trat einen Schritt näher, blieb stehen, hob den Kopf hoch empor. Ciri fiel plötzlich ein, was die Bücher über Einhörner sagten.
»Du kannst ruhig näher kommen ...«, krächzte sie und versuchte sich aufzusetzen. »Du kannst, weil ich ...«
Das Einhorn schnaubte, sprang weg und galoppierte davon, schwenkte den Schweif. Doch nach einem Moment blieb es stehen, schüttelte den Kopf, scharrte mit dem Huf und wieherte laut.
»Das ist nicht wahr!«, stöhnte sie verzweifelt. »Jarre hat mich nur einmal geküsst, und das zählt nicht! Komm zurück!«
Vor Anstrengung wurde ihr schwarz vor Augen, sie fiel kraftlos auf die Steine. Als es ihr endlich gelang, den Kopf zu heben, war das Einhorn wieder nahe. Es musterte sie forschend, neigte den Kopf und schnaubte leise.
»Hab keine Angst vor mir ...«, flüsterte sie. »Das brauchst du nicht, denn ... denn ich sterbe ja ...«
Das Einhorn wieherte und schüttelte den Kopf. Ciri wurde ohnmächtig.
Als sie zu sich kam, war sie allein. Schmerzerfüllt, steif geworden, durstig, hungrig und mutterseelenallein. Das Einhorn war ein Trugbild gewesen, eine Täuschung, ein Traum. Und es war verschwunden, wie ein Traum verschwindet. Sie verstand das, akzeptierte es, und dennoch empfand sie Trauer und Verzweiflung, als habe das Geschöpf tatsächlich existiert, sei bei ihr gewesen und habe sie verlassen. Wie
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