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Die Zeit der Verachtung

Die Zeit der Verachtung

Titel: Die Zeit der Verachtung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Sapkowski
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Schnallen am rechten Stiefel abgerissen waren und der herabfallende Stiefelschaft das Gehen erschwerte. Sie setzte sich hin, diesmal auf zweckmäßige, nicht erzwungene Weise, und sah ihre Kleidung und Ausrüstung durch. Indem sie sich auf diese Tätigkeit konzentrierte, vergaß sie Erschöpfung und Schmerz.
    Das Erste, was sie entdeckte, war der kleine Dolch. Sie hatte ihn vergessen, die Scheide war nach hinten gerutscht. Neben dem Dolch war wie üblich ein kleiner Beutel am Gürtel befestigt. Ein Geschenk von Yennefer. Er enthielt, »was eine Dame immer bei sich haben muss«. Ciri schnürte den Beutel auf. Leider sah die Standardausrüstung einer Dame die Situation nicht vor, in der sie sich jetzt befand. Der Beutel enthielt einen Schildpattkamm, eine kombinierte Nagelschere und -feile, einen verpackten, sterilisierten Tampon aus Leinengewebe und ein Jadedöschen mit Salbe für die Hände.
    Ciri rieb sich sofort das sonnenverbrannte Gesicht und die Lippen mit der Salbe ein und leckte sich die Lippen gleich wieder ab. Ohne zu zögern leckte sie das ganze Döschen leer, genoss das Fett und die Spur von Feuchtigkeit. Kamille, Ambra und Campher, die zum Aromatisieren der Salbe verwendet worden waren, schmeckten widerwärtig, wirkten aber anregend.
    Sie band den herabfallenden Stiefelschaft mit einem aus dem Ärmel gezogenen Riemchen fest, erhob sich, stampfte ein paarmal versuchsweise auf. Sie packte den Tampon aus und wickelte ihn ab, machte daraus ein breites Band, das die zerschundene Schläfe und die sonnenverbrannte Stirn schützte.
    Sie stand auf, rückte den Gürtel zurecht, schob den Dolch zur linken Hüfte hin, zog ihn mit einer instinktiven Bewegung aus der Scheide, prüfte mit dem Daumen die Schneide. Sie war scharf. Sie hatte es gewusst.
    Ich habe eine Waffe, dachte sie. Ich bin eine Hexerin. Nein, ich werde hier nicht umkommen. Was soll mir der Hunger, ich werde es aushalten, im Tempel der Melitele musste ich manchmal auch zwei Tage lang fasten. Und Wasser  ... Wasser muss ich finden. Ich werde so lange gehen, bis ich welches finde. Diese verdammte Wüste muss irgendwo ein Ende haben. Wenn es eine große Wüste wäre, wüsste ich von ihr, ich hätte sie auf den Karten bemerkt, die ich zusammen mit Jarre angeschaut habe. Jarre  ... Was er wohl jetzt macht  ...
    Ich breche auf, entschied sie. Ich gehe nach Westen, ich sehe, wo die Sonne untergeht, das ist die einzige feststehende Richtung. Ich verirre mich ja nie, weiß immer, in welche Richtung ich gehen muss. Wenn es sein muss, werde ich die ganze Nacht gehen. Ich bin Hexerin. Sobald ich wieder bei Kräften bin, werde ich laufen wie in der 
Spur
. Dann gelange ich schnell an den Rand dieser Einöde. Ich werde es aushalten  ... Ich muss es aushalten  ... Ha, Geralt war sicherlich ein paarmal in Wüsten wie dieser, wer weiß, vielleicht sogar in noch schlimmeren  ...
    Ich gehe.
    Nach der ersten Stunde Marsch hatte sich die Landschaft nicht verändert. Ringsum war nach wie vor nichts als Steine, rötlichgrau, scharf, die unter den Füßen wegruschten, sie zur Vorsicht zwangen. Spärliche Sträucher, trocken und stachlig, reckten ihr aus Bodenspalten verkrümmte Zweige entgegen. Am ersten Strauch, den sie erreichte, blieb Ciri stehen, in der Annahme, sie werde Blätter oder junge Zweige vorfinden, die sie aussaugen könnte. Doch der Strauch hatte nur Dornen, die die Finger verletzten. Er eignete sich nicht einmal dazu, einen Stab herauszubrechen. Der zweite und dritte Strauch waren ebenso, die folgenden ignorierte sie, ging an ihnen vorbei, ohne stehenzubleiben.
    Es wurde rasch dunkler. Die Sonne sank über dem gezackten, zerklüfteten Horizont, der Himmel erstrahlte in Rot und Purpur. Mit der Dämmerung kam die Kälte. Zunächst begrüßte sie sie freudig, die Kälte beruhigte die verbrannte Haut. Bald jedoch wurde es noch kälter, und Ciri begann mit den Zähnen zu klappern. Sie beschleunigte den Schritt in der Hoffnung, davon würde ihr warm, doch die Anstrengung rief den Schmerz in der Seite und im Knie wieder wach. Sie begann zu humpeln. Zu allem Übel verschwand die Sonne vollends hinterm Horizont, und sofort herrschte Dunkelheit. Es war Neumond, und die Sterne, mit denen der Himmel übersät war, nützten nichts. Bald sah Ciri den Weg vor sich nicht mehr. Ein paarmal fiel sie hin und schürfte sich schmerzhaft Haut von den Händen. Zweimal traf sie mit dem Fuß auf eine Spalte zwischen den Steinen, und nur die bei der Hexerausbildung

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