Die Zeit der Verachtung
alle sie verlassen hatten.
Sie wollte aufstehen, vermochte es aber nicht. Sie stützte das Gesicht auf die Steine. Langsam griff sie an die Seite, tastete nach dem Griff des Dolches. Blut ist flüssig. Ich muss trinken.
Sie hörte Hufschlag, ein Wiehern.
»Du bist zurückgekommen ...«, flüsterte sie und hob den Kopf. »Bist du wirklich zurückgekommen?«
Das Einhorn schnaubte laut. Sie bemerkte seine Hufe, die schon nahe bei ihr waren. Die Hufe waren nass. Sie troffen geradezu vor Wasser.
Die Hoffnung verlieh ihr Kraft, erfüllte sie mit Energie. Das Einhorn führte, Ciri folgte ihm, noch immer unsicher, ob das nicht womöglich ein Traum sei. Als die Erschöpfung sie schließlich doch zu Boden warf, ging sie auf allen vieren weiter. Dann kroch sie.
Das Einhorn führte sie zwischen Felsen zu einer flachen Senke, deren Boden mit Sand bedeckt war. Ciri kroch mit letzter Kraft. Doch sie kroch. Denn der Sand war nass.
Das Einhorn blieb vor einer im Sande sichtbaren Vertiefung stehen, wieherte, scharrte kräftig mit dem Huf, einmal, zweimal, dreimal. Sie verstand. Sie kroch näher heran, half ihm. Sie wühlte und brach sich dabei die Fingernägel ab, grub, schob beiseite. Sie schluchzte wohl dabei, doch dessen war sie sich nicht sicher. Als am Grunde der Vertiefung eine morastige Flüssigkeit erschien, fiel sie sogleich mit dem Mund darüber her, schluckte das trübe Wasser mitsamt dem Sand, so gierig, dass das Wasser verschwand. Ciri beherrschte sich mit riesiger Anstrengung, grub noch tiefer, benutzte dazu den Dolch, dann setzte sie sich hin und wartete. Sie knirschte mit dem Sand auf den Zähnen und zitterte vor Ungeduld, doch sie wartete, bis die Vertiefung sich wieder mit Wasser füllte. Und dann trank sie. Lange.
Beim dritten Mal ließ sie das Wasser sich etwas setzen, trank an die vier Schlucke ohne Sand, nur mit dem Schlamm. Und da fiel ihr das Einhorn ein.
»Du hast sicherlich auch Durst, Pferdchen«, sagte sie. »Aber Morast wirst du ja nicht trinken. Kein Pferdchen trinkt Morast.«
Das Einhorn wieherte.
Ciri vertiefte die Grube, befestigte ihren Rand mit Steinen.
»Warte ein wenig, Pferdchen. Lass es sich ein bisschen setzen ...«
Das »Pferdchen« schnaubte, stampfte, wandte den Kopf ab.
»Schmoll nicht. Trink.«
Das Einhorn senkte das Maul vorsichtig zum Wasser.
»Trink, Pferdchen. Das ist kein Traum. Das ist richtiges Wasser.«
Zunächst trödelte Ciri, wollte nicht von der kleinen Quelle fortgehen. Sie hatte sich nämlich eine neue Methode zum Trinken ausgedacht, die darin bestand, das in der Vertiefung nass gemachte Taschentuch in den Mund auszudrücken, womit sie Sand und Schlamm weitgehend vermeiden konnte. Doch das Einhorn drängte, wieherte, stampfte, lief weg, kam wieder zurück. Es forderte zum Marschieren auf und zeigte den Weg. Nach heftigem Zögern gehorchte Ciri – das Tier hatte recht, sie musste gehen, zu den Bergen hingehen, aus der Wüste heraus. Sie folgte dem Einhorn, wobei sie sich umschaute und sich die Lage der Quelle genau einprägte. Sie wollte sich nicht verirren, falls sie umkehren musste.
Sie gingen den ganzen Tag lang zusammen. Das Einhorn, das sie »Pferdchen« genannt hatte, führte. Es war ein seltsames Pferdchen. Es aß Unkraut, das nicht nur kein Pferd angerührt hätte, sondern nicht einmal eine ausgehungerte Ziege. Und als es zwischen den Steinen eine Kolonne großer Ameisen entdeckte, begann es auch die zu essen. Ciri schaute zunächst verwundert zu, dann schloss sie sich dem Festmahl an. Sie hatte Hunger.
Die Ameisen waren schrecklich sauer, doch vielleicht war gerade das der Grund, dass sie kein Brechreiz überkam. Außerdem waren es viele Ameisen, und sie konnte ein wenig die steif gewordenen Kiefer gebrauchen. Das Einhorn aß die Insekten im Ganzen, Ciri begnügte sich mit Hinterleibern und spuckte die harten Bruchstüche der Chitinpanzer aus.
Sie gingen weiter. Das Einhorn entdeckte ein paar Büschel vergilbtes Federgras und aß sie genüsslich. Diesmal schloss sich Ciri nicht an. Doch als Pferdchen im Sande Eidechseneier fand, aß sie sie, und das Einhorn schaute zu. Sie gingen weiter. Ciri entdeckte ein Büschel Federgras, wies Pferdchen darauf hin. Etwas später lenkte Pferdchen ihre Aufmerksamkeit auf einen riesigen schwarzen Skorpion mit einem Schwanz, der wohl anderthalb Spannen lang war. Ciri zertrat das ekelhafte Vieh. Als es sah, dass sie sich nicht anschickte, den Skorpion zu essen, aß das Einhorn ihn selbst und wies sie
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