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Die Zeit der Verachtung

Die Zeit der Verachtung

Titel: Die Zeit der Verachtung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Sapkowski
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nicht ohne Not gebrauchen. Leider kannte sie keinen, der imstande gewesen wäre, Wasser oder Nahrung zu erschaffen. Sie wusste, dass es solche gab, verstand aber keinen davon anzuwenden.
    Im Licht der magischen Kugel kam plötzlich Leben in die bislang tote Wüste. Ungeschickt flohen unter Ciris Füßen glänzende Käfer und pelzige Spinnen davon. Ein kleiner rotgelber Skorpion, der seinen segmentierten Schwanz nachzog, lief ihr hurtig über den Weg, tauchte in einen Spalt zwischen Steinen ab. Eine langschwänzige grüne Eidechse huschte in die Dunkelheit, raschelte über das Geröll. Es liefen Nagetiere vor ihr davon, die großen Mäusen ähnelten und auf den Hinterbeinen geschickt und hoch sprangen. Mehrmals erblickte sie im Dunkeln aufblitzende Augen, und einmal hörte sie ein Zischen, das von einem Steinhaufen herkam und ihr das Blut in den Adern stocken ließ. Wenn sie sich anfangs mit der Absicht getragen hatte, etwas Essbares zu erjagen, nahm ihr das Zischen jegliche Lust, zwischen den Steinen herumzustöbern. Sie begann genauer darauf zu achten, wo sie hintrat, und vor den Augen standen ihr die Zeichnungen aus den Büchern, die sie in Kaer Morhen betrachtet hatte. Der Gigaskorpion. Die Scarlettia. Die Greule. Der Vicht. Die Lamia. Die Krabbspinne. Ungeheuer, die in Wüsten lebten. Beim Gehen hielt sie ängstlich und wachsam Ausschau und spitzte die Ohren, umklammerte den Griff des Dolches.
    Nach ein paar Stunden wurde die leuchtende Kugel trüber, der Kreis des von ihr geworfenen Lichtes nahm ab, wurde dunkler, verschwamm. Ciri konzentrierte sich mit Mühe und sagte abermals den Spruch. Die Kugel erzitterte für ein paar Sekunden in hellerem Licht, wurde aber sogleich rot und wieder trübe. Die Anstrengung ließ sie wanken, sie taumelte, vor den Augen tanzten ihr schwarze und rote Flecke. Sie setzte sich schwerfällig hin, dass der Splitt knirschte.
    Die Kugel erlosch vollends. Ciri versuchte keine Zaubersprüche mehr, die Erschöpfung, die Leere und der Mangel an Energie, die sie in sich spürte, nahmen ihr von vornherein jede Erfolgsaussicht.
    Vor ihr, weit am Horizont, erhob sich ein undeutlicher Lichtschein. Ich habe mich verirrt, stellte sie entsetzt fest. Ich habe alles verdreht  ... Erst bin ich nach Westen gegangen, jetzt aber geht die Sonne direkt vor mir auf, und das heißt  ...
    Sie fühlte, wie Erschöpfung und eine Schläfrigkeit sie übermannten, gegen die nicht einmal die Kälte ankam, die sie zittern ließ. Ich werde nicht einschlafen, beschloss sie. Ich darf nicht einschlafen ... Ich darf nicht  ...
    Sie erwachte von durchdringender Kälte und zunehmender Helligkeit, und der in den Eingeweiden wühlende Schmerz, das trockene und aufdringliche Brennen in der Kehle brachten sie vollends zu sich. Sie versuchte aufzustehen. Sie konnte es nicht. Die schmerzenden und steif gewordenen Glieder versagten den Dienst. Als sie mit den Händen um sich tastete, fühlte sie Feuchtigkeit unter den Fingern.
    »Wasser  ...«, krächzte sie. »Wasser!«
    Am ganzen Körper zitternd kam sie auf alle viere, presste die Lippen gegen die Basaltplatten, sammelte fieberhaft die Tröpfchen, die sich auf der glatten Oberfläche niedergeschlagen hatten, saugte die Feuchtigkeit aus den Vertiefungen in der unebenen Oberfläche des Felsbrockens. In einer hatte sich fast eine halbe Handvoll Tau angesammelt – sie leckte sie zusammen mit Sand und Steinstaub auf, wagte es nicht, auszuspucken. Sie schaute sich um.
    Vorsichtig, um nicht das kleinste bisschen zu verlieren, sammelte sie mit der Zunge die glänzenden Tautropfen, die an den Dornen eines zwergwüchsigen Strauches hingen, der es auf rätselhafte Weise geschafft hatte, zwischen den Steinen hervorzuwachsen. Auf dem Erdboden lag ihr Dolch. Sie erinnerte sich nicht, wann sie ihn aus der Scheide genommen hatte. Die Klinge war trübe von einer dünnen Schicht Tau. Sorgfältig und gründlich leckte sie das kalte Metall ab.
    Sie überwand den Schmerz, der den Körper steif machte, und kroch auf allen vieren vorwärts, folgte der Feuchtigkeit auf anderen Steinen. Aber die goldene Sonnenscheibe war schon über den steinigen Horizont gestiegen, goss blendende goldene Helligkeit über die Wüste, trocknete blitzschnell die Felsbrocken. Ciri empfing freudig die zunehmende Wärme, doch ihr war klar, dass sie sich schon bald, unbarmherzig mit Hitze überflutet, nach der Kälte der Nacht sehnen würde.
    Sie wandte der glänzenden Kugel den Rücken zu. Dort, wo sie

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