Die Zeit der Verachtung
einstudierten Ausweichbewegungen bewahrten sie davor, sich den Fuß zu brechen oder zu verstauchen. Ihr wurde klar, dass sie haltmachen musste. Es war unmöglich, in der Dunkelheit zu marschieren.
Sie setzte sich auf einen flachen Basaltblock und empfand lähmende Verzweiflung. Sie hatte keine Ahnung, ob sie beim Gehen die Richtung gehalten hatte; sie hatte längst die Stelle verloren, wo die Sonne am Horizont versunken war, sah keine Spur des Lichtscheins mehr, an dem sie sich in den ersten Stunden nach Sonnenuntergang orientiert hatte. Ringsum war nur noch samtene, undurchdringliche Schwärze. Und schneidende Kälte. Eine Kälte, die lähmte, in die Gelenke biss, sie zwang, sich zusammenzukrümmen und den Kopf zwischen die davon schmerzenden Schultern zu ziehen. Ciri begann sich nach der Sonne zu sehnen, obwohl sie wusste, dass mit ihrem Erscheinen sofort eine Hitze auf die Felsen herabströmen würde, die nicht auszuhalten wäre. In der sie nicht weitermarschieren könnte. Wieder fühlte sie, wie ihr der Drang zu weinen die Kehle abschnürte, wie Wellen von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit sie einhüllten. Doch diesmal wurde aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit Zorn.
»Ich werde nicht weinen!«, schrie sie in die Finsternis. »Ich bin eine Hexerin! Ich bin ...«
Eine Zauberin.
Ciri hob die Arme, presste die Handflächen an die Schläfen. Die
Kraft
ist überall. Sie ist im Wasser, in der Luft, in der Erde ...
Sie stand rasch auf, streckte die Hände aus, ging langsam, unsicher ein paar Schritte, suchte fieberhaft eine Quelle. Sie hatte Glück. Fast sofort fühlte sie in den Ohren das vertraute Rauschen und Pulsieren, spürte die Energie, die aus einer in den Tiefen der Erde verborgenen Wasserader heraufdrang. Sie schöpfte
Kraft
, indem sie vorsichtig, zurückhaltend Luft holte; sie wusste, dass sie geschwächt war, und in diesem Zustand konnte ein abrupter Sauerstoffmangel im Hirn sie sofort ohnmächtig werden lassen, die ganze Anstrengung zunichte machen. Die Energie füllte sie allmählich aus, brachte die vertraute, momentane Euphorie. Die Lunge begann stärker und schneller zu arbeiten. Ciri zügelte die beschleunigte Atmung – eine zu intensive Sauerstoffzufuhr konnte ebenfalls fatale Folgen haben.
Es gelang.
Zuerst die Erschöpfung, dachte sie, zuerst dieser lähmende Schmerz im Rücken und in den Schenkeln. Dann die Kälte. Ich muss die Körpertemperatur erhöhen ...
Schrittweise rief sie sich Gesten und Sprüche in Erinnerung. Manche führte und sprach sie zu hastig aus – plötzlich überfielen sie Spasmen und Zittern, ein heftiger Krampf und Schwindelgefühl ließen ihr die Knie weich werden. Sie setzte sich auf die Basaltplatte, beruhigte die zitternden Hände, gewann die Beherrschung über den keuchenden, arrhythmischen Atem zurück.
Sie wiederholte die Formeln, zwang sich zu Ruhe und Präzision, zur Konzentration und vollständigen Sammlung des Willens. Und diesmal trat die Wirkung auf der Stelle ein. Sie verteilte die sie einhüllende Wärme auf Schenkel und Gurgel. Sie stand auf, fühlte, wie die Müdigkeit verschwand und die schmerzenden Muskeln sich entspannten.
»Ich bin eine Zauberin!«, rief sie triumphierend und hob die Hände hoch empor. »Komm, unsterbliches Licht! Ich rufe dich! Aen’drean va, aveigh Aine!«
Eine nicht besonders große warme Lichtkugel stieg von ihren Händen wie ein Falter auf, warf unstete Schattenmosaiken auf die Steine. Mit einer langsamen Handbewegung stabilisierte sie die Kugel, platzierte sie so, dass sie vor ihr hing. Das war kein guter Einfall – das Licht blendete sie. Sie versuchte, die Kugel hinter ihrem Rücken unterzubringen, doch auch das ergab eine miserable Wirkung – ihr eigener Schatten legte sich auf den Weg, beeinträchtigte die Sicht. Schön langsam schob Ciri die leuchtende Sphäre zur Seite, ließ sie ein Stück über ihrer rechten Schulter schweben. Obwohl die Kugel offensichtlich einem echten magischen Aine nicht das Wasser reichen konnte, war das Mädchen unheimlich stolz auf seine Leistung.
»Ha!«, brüstete sie sich. »Schade, dass Yennefer das nicht sieht!«
Sie marschierte zügig und energisch weiter, schritt rasch und sicher aus, wählte ihren Weg im schwankenden und unsteten Helldunkel, das die Kugel warf. Beim Gehen versuchte sie sich an andere Zaubersprüche zu erinnern, doch keiner schien ihr auf die Situation zu passen, zudem waren manche sehr kräftezehrend, sie hatte ein wenig Angst, wollte sie
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