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Die Zeit der Verachtung

Die Zeit der Verachtung

Titel: Die Zeit der Verachtung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Sapkowski
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natürlich die wichtigsten Sternbilder – die Sieben Ziegen, den Krug, die Sichel, den Drachen und die Winterjungfrau, doch gerade die standen hoch am Firmament und eigneten sich schlecht, die Marschrichtung zu bestimmen. Endlich gelang es ihr, in dem funkelnden Gewimmel einen ziemlich hellen Stern auszuwählen, der, wie sie glaubte, die richtige Richtung anzeigte. Sie wusste nicht, was das für ein Stern war, also gab sie ihm selbst einen Namen. Sie nannte ihn das Auge.
    Sie ging. Die Bergkette, auf die sie zuging, kam kein bisschen näher – sie war immer noch so weit entfernt wie am Tag zuvor. Doch sie wies den Weg.
    Beim Gehen schaute sie sich wachsam um. Sie fand noch ein Eidechsengelege, es lagen vier Eier darin. Sie entdeckte ein grünes Pflänzchen, nicht länger als der kleine Finger, das es wie durch ein Wunder geschafft hatte, zwischen den Felsbrocken hervorzuwachsen. Sie fing einen großen braunen Käfer. Und eine dünnbeinige Spinne.
    Sie aß alles.
     
    Gegen Mittag erbrach sie, was sie gegessen hatte, und verlor danach das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kam, suchte sie sich ein Fleckchen Schatten und lag zusammengekrümmt da, die Hände gegen den schmerzenden Bauch gepresst.
    Bei Sonnenuntergang setzte sie den Marsch fort. Steif wie ein Automat. Mehrmals fiel sie hin, stand wieder auf, ging weiter.
    Sie ging. Sie musste gehen.
     
    Abend. Rast. Nacht. Das Auge weist den Weg. Marschieren bis zur völligen Erschöpfung, die sich lange vor Sonnenaufgang einstellte. Rast. Schlechter Schlaf. Hunger. Kälte. Mangel an magischer Energie, ein Fiasko beim Zaubern von Licht und Wärme. Durst, der nur noch stärker wurde, als sie am Morgen den Tau von der Dolchklinge und den Steinen geleckt hatte.
    Als die Sonne aufging, schlief sie in der zunehmenden Wärme ein. Sie wurde von Gluthitze geweckt. Sie stand auf, um weiterzugehen.
    Nach knapp einer Stunde Marsch wurde sie ohnmächtig. Als sie wieder zu sich kam, stand die Sonne im Zenit. Sengende Hitze. Sie hatte keine Kraft, Schatten zu suchen. Sie hatte keine Kraft aufzustehen. Doch sie stand auf.
    Sie ging. Sie ließ sich nicht unterkriegen. Fast den ganzen folgenden Tag lang. Und einen Teil der Nacht.
     
    Die größte Hitze verschlief sie abermals, unter einem schräg im Sande steckenden Felsen zusammengerollt. Der Schlaf war unruhig und qualvoll – sie träumte von Wasser, Wasser, das man trinken kann. Große, weiße, von Sprühnebel und einem Regenbogen umringte Wasserfälle. Singende Bäche. Kleine Waldquellen im Schatten von Farbkraut, das im Wasser steht. Bemooste Brunnen und überlaufende Eimer  ... Die Tropfen, die an einem schmelzenden Eiszapfen herabrinnen  ... Wasser. Kaltes, belebendes Wasser, das die Zähne schmerzen lässt, aber so wunderbar, unnachahmlich schmeckt  ...
    Sie erwachte, rappelte sich auf und begann in die Richtung zu gehen, aus der sie gekommen war. Sie kehrte um, stolpernd und fallend. Sie musste umkehren! Beim Gehen war sie an Wasser vorbeigekommen! War, ohne haltzumachen, an einem zwischen den Steinen plätschernden Bach vorbeigegangen! Wie konnte sie so unvernünftig sein!
    Sie kam zu sich.
    Die Hitze hatte nachgelassen, es wurde bald Abend. Die Sonne zeigte den Weg nach Westen. Zu den Bergen. Die Sonne durfte nicht in ihrem Rücken stehen, hatte kein Recht dazu. Ciri verscheuchte das Trugbild, hielt die Tränen zurück. Sie drehte sich um und marschierte weiter.
     
    Sie ging die ganze Nacht hindurch, aber sehr langsam. Sie kam nicht weit. Sie schlief beim Gehen ein und träumte von Wasser. Die aufgehende Sonne fand sie auf einem Steinblock sitzend, den Blick auf die Dolchklinge gerichtet und auf den entblößten Unterarm.
    Blut ist doch flüssig. Man kann es trinken.
    Sie verscheuchte die Trugbilder und Albgesichter. Sie leckte den taubedeckten Dolch ab und setzte den Marsch fort.
     
    Sie wurde ohnmächtig. Sie kam zu sich, von der Sonne und den aufgeheizten Steinen gebrannt. Vor sich, hinter dem Vorhang aus zitternder Luft, sah sie die zerklüftete, gezackte Bergkette.
    Sie war näher. Viel näher.
    Doch Ciri hatte keine Kraft mehr. Sie setzte sich hin. Der Dolch in ihrer Hand warf die Sonne zurück, flammte. Er war scharf. Sie wusste das.
    Wozu quälst du dich, fragte der Dolch mit der ernsten, ruhigen Stimme der pedantischen Zauberin, die Tissaia de Vries hieß. Warum verurteilst du dich zum Leiden? Mach endlich Schluss damit!
    Nein. Ich lasse mich nicht unterkriegen.
    Du hältst das nicht aus. Weißt du, wie

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