Die Zeit des Boesen
Stadttor hin, um Alarm zu schlagen.
Er hatte es noch nicht getan, als hinter ihm markerschütternde Schreie laut wurden, wie er sie nie zuvor gehört hatte. Und, so betete er, hoffentlich nie mehr würde hören müssen ...
*
Tage danach, Prag im Mai 1618
Es gab Tage, da wußte Justus nicht, wohin mit seiner Schüchternheit - und ein anderes Mal sprühte er förmlich vor Erlebnishunger - der Sehnsucht nach neuen Erfahrungen und neuen Dingen, die es hier zuhauf zu bestaunen gab.
Laute Mönchsgesänge hatten ihn, obwohl eigentlich noch müde von der langen Kutschfahrt, auf einen der Höfe gelockt. Obwohl Justus sich mitunter nicht schlüssig war, ob er tatsächlich ein frommer oder nur ein frömmelnder Jüngling war, hatte ihn die Hoffnung auf eine Andacht aus seiner gerade erst bezogenen Unterkunft getrieben.
Schon die Reise hierher war so voller Eindrücke gewesen, daß er seine widerstreitenden Gefühle kaum ordnen konnte. Ein wenig innere Einkehr konnte nicht schaden, zumal er sich unter Mönchen mit keinem falschen Schein zu umgeben brauchte. Niemand würde einen anderen in ihm zu sehen erwarten als den, der er tatsächlich war!
Justus seufzte.
Über die Turmstiegen erreichte er den Innenhof, auf dem der obligate Brunnen . aber auch noch etwas nicht gar so Übliches zu finden war: Ein gewaltiges Feuer leckte zur frühen Abendstunde über ein nachlässig gezimmertes Gerüst, auf dem der Torso einer enthaupteten Frau aufgebahrt lag!
Um eine herkömmliche Bestattung handelte es sich keinesfalls. Solcherart verfuhr man nur mit Menschen, die selbst im Tode noch für begangene Untaten gestraft werden sollten!
Die Neugierde trieb Justus näher an das Geschehen heran, obgleich der Anblick der kopflosen Frauenleiche ihm den Magen anheben wollte.
»Verschwinde!« fauchte ihn unvermittelt von hinten eine barsche Stimme an.
Als er sich umdrehte, sah Justus ins Gesicht eines Burgsoldaten, dem es nicht einmal über die Uniform gelang, Vertrauen zu wecken. Im Gegenteil: Justus war selten einem Menschen begegnet, dessen Blicke ihn dermaßen abgestoßen hatten. Trotzdem faßte er sich ein Herz und fragte: »Wer ist sie? Warum wird sie verbrannt?«
Der Gefragte bleckte die schwärzlichen Zähne zu einem gemeinen Grinsen. »Es gefällt dir, das man sie nackt einäschert, hab' ich recht? Dir steht die Wollust um die Nase geschrieben! Hast du es schon mal mit einer Leiche getrieben? Die hier würde dir tüchtig einheizen ... Steig nur hoch zu ihr! Schnell; die Pfaffen, so sie ihre Arbeit ernst nehmen, werden ihre Blicke nicht zu ihr erheben. Sie beten nur für die arme Seele, die doch längst zur Hölle hinabgefahren ist!«
Justus wurde vollends schlecht. Angewidert kehrte er dem Soldaten den Rücken zu. Die Flammen, die eben erst am Gerüst zu nagen begonnen hatten, umtanzten nun bereits den Torso, dessen Blässe auf das ihm entwichene Blut zurückzuführen sein mußte. Und trotzdem .
... war sie engelsschön!
Nicht einmal die Vampirin in Dresden hatte einen Körper wie diese Frau hier ihr eigen genannt! Die Proportionen lenkten kurzzeitig sogar von dem Makel des fehlenden Hauptes ab.
Obwohl es ihm zutiefst widerstrebte, fragte Justus mit rauher Stimme hinter sich: »Wo ist ihr Kopf? Was hat man mit ihm getan?«
Der Hartgesottene in seinem Rücken lachte. »Vielleicht will ihn sich der Graf als Trophäe präparieren lassen. Es ist nicht das erste Hexenweib, das er aufs Schafott brachte. Vielleicht eröffnet er ir-gendwann eine Ausstellung mit all den Häuptern, die .«
Die Stimme verstummte, so als fürchtete selbst ein Zyniker wie dieser, daß er zuviel sagen könnte. Lügen oder Wahrheiten, die ihn selbst um Kopf und Kragen bringen konnten.
»Wer bist du überhaupt? Ich hab' dich hier noch nie herumlungern sehen. Du solltest vorsichtiger sein, und wenn du nicht gleich Fersengeld gibst .«
Justus hörte gar nicht mehr zu, weil er in diesem Moment etwas anderes seine Aufmerksamkeit zu fesseln begann. Mechanisch setzte er sich in Bewegung und lief über den erstaunlich menschenleeren Hof. Justus konnte sich das mangelnde Interesse an der Verbrennung nur damit erklären, daß die üblichen Schaulustigen bereits bei der Hinrichtung der Frau zufriedengestellt worden waren.
Das Weinen des Mädchens erschütterte ihn zutiefst.
Vorhin hatte er es nur schwach erkennen können, weil der brennende Haufen dazwischengestanden hatte. Nun, da er ihn in weitem Bogen umgangen hatte, sah er nicht nur das Mädchen deutlich,
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