Die Zeit, die Zeit (German Edition)
Gesicht mit weit auseinanderliegenden hellen Augen. Auf den ersten Fotos mochte sie Mitte zwanzig sein, auf den letzten Anfang fünfzig. Auf allen lachte oder lächelte sie.
Eine fröhliche, liebenswürdige Frau, die schlecht zu diesem griesgrämigen Mann passte.
Zwei der Fotos zeigten sie mit ihm. Eines, sehr formell, Kostüm und Anzug, Blumenstrauß und Blume im Knopfloch, sah nach den fünfziger Jahren aus, vielleicht das Verlobungsfoto. Auf dem anderen stand das gleiche Paar vor einem mit Zebramuster bemalten Landrover. Knupp trug bereits seinen seltsamen Bart.
»Viel zu früh. Wie Ihre.« Knupp war zur Tür hereingekommen und hatte gesehen, wohin Taler schaute. Er trug ein Tablett mit einer Tasse Kaffee, deren Inhalt auf dem Weg aus der Küche übergeschwappt war. Eine Flasche Bier lag noch ungeöffnet daneben.
»Woran?«, fragte Taler.
Knupp stellte das Tablett auf den Tisch, öffnete das Bier und setzte sich. »An etwas Vermeidbarem.« Es klang nicht so, als wolle er das Thema weiter erörtern.
Taler nahm das Bier. Haflingerbräu, seine Marke. Ein Zufall, wollte er hoffen.
Er setzte die Bierflasche an die Lippen und trank einen Schluck. Knupp blies in seinen Kaffee und sah seinen Gast abwartend an. Er saß mit dem Rücken zum Fenster, und die Abenddämmerung machte seine Gesichtszüge etwas undeutlich.
Peter Taler sah an ihm vorbei in den Garten mit den Apfelbäumen. Über der Hecke auf der anderen Straßenseite war das dreistöckige Haus zu sehen, in dem er wohnte. Im Blumenfenster des dritten Stocks ging das Licht an. Frau Feldter, die Flugbegleiterin, war zu Hause.
Endlich unterbrach Taler die Stille. »Was sagen Ihre Nachbarn dazu, dass Sie in der Nacht ihre Pflanzen klauen?«
Knupp antwortete nicht, aber Taler konnte die Spur eines Lächelns erraten.
»Warum haben Sie das getan?«
Auch dazu schwieg der alte Mann.
»Weil er neu ist, nicht wahr? Weil er nicht existierte, als Ihre Frau noch lebte.«
Die Silhouette von Knupps Kopf bewegte sich auf und ab.
Nach einer Pause sagte Taler: »Das macht sie auch nicht wieder lebendig.«
Knupp stand auf, zog die Vorhänge zu und schaltete eine Stehlampe an. Ihr Lichtkegel erhellte einen Polstersessel, auf dem eine Zeitung lag. Der übrige Raum wurde durch das bisschen Helligkeit, das durch den Stoff ihres bestickten Schirms drang, kaum erhellt.
Er griff nach der Zeitung auf dem Sessel und legte sie vor Peter Taler auf den Tisch.
Auf der Titelseite war ein Foto von Roy Black mit einem Hinweis auf einen Nachruf auf den Sänger auf Seite zwölf. Er war zwei Tage zuvor in seiner Fischerhütte tot aufgefunden worden. Die Zeitung trug das Datum vom 11. Oktober 1991.
Knupp nahm die leere Kaffeetasse und Talers ausgetrunkenes Bier, humpelte aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit zwei neuen Flaschen zurück. Er stellte sie auf den Tisch und setzte sich wieder.
Taler studierte die Titelseite. Es fiel ihm nichts Besonderes auf. Als er auf die zwölfte Seite blättern wollte, sagte Knupp: »Nein. Nicht blättern. Auf keinen Fall blättern. Die Zeitung muss ungelesen bleiben. Es war schwer genug, eine ungelesene zu bekommen.«
Knupp legte sie wieder genau so hin, wie sie dagelegen hatte, und strich sie sorgfältig glatt. Danach setzte er sich wieder an den Tisch, prostete Taler flüchtig zu und trank einen Schluck, indem er mit der linken Hand die rechte stützte, um sie am Zittern zu hindern.
»Verstehen Sie die Zeit?«
»Die Zeit?«
»Verstehen Sie sie?«
»Sie vergeht. Mehr weiß ich nicht.«
»Schon falsch. Sie vergeht nicht.«
Ich habe recht gehabt, dachte Taler, der Mann ist verrückt.
»Aber Sie sind nicht der Einzige, der das nicht versteht. Auch ich habe die Zeit erst vor ein paar Jahren verstanden.«
»Und was genau haben Sie verstanden?«
Knupp trank einen Schluck. »Die Zeit vergeht nicht, alles andere vergeht. Die Natur. Die Materie. Die Menschheit. Aber die Zeit nicht. Die Zeit gibt es nicht.«
Ruhig und geduldig trug er seine bizarre Theorie vor wie ein greiser Lehrer einer neuen Klasse einen alten Stoff.
»Dieses ständige Werden und Vergehen hat nur einen einzigen Zweck: Es täuscht vor, dass die Zeit verstreicht.«
Knupp wartete ab, bis sein Schüler ihm den Gefallen tat zu nicken. Dann fuhr er fort.
»Die Apfelbäume. Nehmen Sie die Apfelbäume, Sie wissen ja, welche.«
Peter nickte.
»Weil sie wachsen, weil sie dieses Jahr größer sind als letztes, glauben wir, es sei Zeit vergangen. Dabei sind nur die Apfelbäume
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