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Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Titel: Die Zeit, die Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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in diesem Zustand nicht zu stören. Es war gefährlich wie das Wecken einer Schlafwandlerin.
    Auf ihrem Tisch neben dem Computer lag noch immer der dünne Stapel Post, den er dem Briefkasten entnommen hatte. Das meiste war Werbung, trotz des Werbestoppers, der an seinem Briefkasten klebte. Eine Rechnung seiner Krankenkasse war dabei und die Heizkostenabrechnung der Hausverwaltung.
    Zuunterst lag ein Briefumschlag, der weder nach Werbung noch nach Rechnung aussah. Er war gelb, hatte das Format eines halben Briefbogens und trug die getippte Anschrift »Peter Taler persönlich«.
    Er enthielt eine Anzahl Schwarzweißfotos, hart kopiert und hochglanzgetrocknet. Jedes zeigte ein Stück der Fassade vom Gustav-Rautner-Weg vierzig, im Zentrum das Blumenfenster von Talers Wohnzimmer. Auf jedem waren die Umrisse einer Gestalt zu erkennen – Peter Taler auf seinem Posten.
    Die Fotos waren frontal mit einem Teleobjektiv aufgenommen.
    Taler ging ins Wohnzimmer und sah aus dem Fenster. Ganz oben im Giebel von Knupps Haus befand sich ein kleines, kreisrundes Dachbodenfenster. Es lag nur wenig über Talers Augenhöhe. Er holte den Feldstecher und richtete ihn auf das Bullauge. Das Loch war schwarz und leer. Doch plötzlich entstand eine Bewegung. Ein kurzes Aufleuchten, wie ein Reflex auf einem spiegelnden Gegenstand. War es ein Objektiv?
    Taler hielt das Fernglas weiter auf das Ziel gerichtet. Er war sich jetzt sicher. Das Fensterchen war offen.
    Wie zur Bestätigung wurde es bewegt, fing das Dämmerlicht des Regenabends ein, reflektierte es kurz in Talers Richtung – und war zu.
    Das milchige Industrieglas der Scheibe machte aus dem schwarzen Loch einen blinden Fleck.
    Taler setzte sich an Lauras Computer und öffnete die Fotos. Auf einem der vier, die er gemacht hatte, war das Bullauge schwarz und leer. Auf dem von Laura stand es halb offen.
    Als hätte Knupp es im Moment der Aufnahme gerade schließen oder öffnen wollen.
    Knupp beobachtete ihn also. Beobachtete, wie Taler ihn beobachtete. Fotografierte ihn sogar dabei.
    Weshalb? Wollte er ihm bloß zeigen, dass er sehr wohl wusste, dass er unter Talers Beobachtung stand? Oder wollte er ihm einfach demonstrieren, dass er, Knupp, der Beobachter war, nicht der Beobachtete?
    Der Duft aus der Küche war intensiver geworden. Aber er hatte sich noch mit einer anderen Note vermischt, einer, die Taler nur allzu gut kannte.
    Er rannte in die Küche und riss das Fenster auf. Aus der kleinen Pfanne mit der Tomatensauce stieg Rauch. Taler wickelte ein Geschirrtuch um die rechte Hand, nahm die Pfanne vom Herd, hielt sie unter den Hahn und drehte das Wasser auf. Eine Dampfwolke zischte gegen die Decke.
    Er füllte die Pfanne mit Wasser und schüttete etwas Spülmittel dazu, um den schwarzen Bodensatz aufzuweichen. Dann ging er ins Wohnzimmer.
    Der Dämmerungsschalter hatte die Straßenbeleuchtung eingeschaltet. Knupps Garten lag in einem geheimnisvollen Zwielicht. Aus einem Fenster im Erdgeschoss drang schwach gelbes Licht. Es regnete wieder. Oder noch? Taler hatte nicht darauf geachtet.
    Seit wann wurde er von Knupp beobachtet? Erst, seit dieser bemerkt hatte, dass Taler ihn observierte? Oder schon länger? Hatte er es bereits getan, als Laura noch lebte? Das halboffene Bullauge auf ihrem Foto sprach dafür. Ein Dachbodenfenster machte man nicht ohne Grund auf und zu. Schon gar nicht, wenn einem eine Hüftgelenksarthrose das Treppensteigen erschwerte.
    Weshalb hatte der Alte ihm die Fotos geschickt? Konnte es etwas anderes bedeuten, als dass er mit ihm in Kontakt treten wollte? Hatte er ihm etwas zu sagen? Zu gestehen? Hatte er etwas beobachtet, das er der Polizei verschwieg?
    Taler machte sich ein Salamibrot, holte ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich aufs Sofa, ohne Licht zu machen.
    Als er eine Viertelstunde später mit einem zweiten Bier aus der Küche kam, stellte er sich ans Fenster und starrte in die regennasse Dunkelheit.
    Die Scheinwerfer eines Autos näherten sich. Als sie Knupps Garten streiften, glaubte er, dort eine Gestalt gesehen zu haben.
    Taler erwachte schweißgebadet. Im Zimmer war es stickig. Eine Kaltfront musste den Thermostat dazu gebracht haben, die Zentralheizung in Gang zu setzen. Der altmodische Heizkörper, der so nahe war, dass er ihn vom Bett aus berühren konnte, war heiß.
    Er stand auf und ging zum Blumenfenster. Bis auf ein paar Pfützen war die Straße trocken. Eine Hochnebeldecke machte das frühe Morgenlicht grau und flach.
    Das Bullauge an

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