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Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Titel: Die Zeit, die Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Küche.
    Peter Taler ärgerte sich, dass er sich mit einem offensichtlich Gestörten auf diese Diskussion eingelassen hatte. Aber vielleicht half eine Annäherung an Knupp dennoch, die Fragen zu Lauras rätselhaftem Tod zu beantworten.
    Als sein Gastgeber mit zwei frischen Flaschen zurückkam, nahm Taler den Faden wieder auf: »Und wie geht das praktisch? Auf der ganzen Welt alles so wiederherstellen wie am Tag X?«
    Knupp hatte sich darauf konzentriert, mit seinen schwer kontrollierbaren Händen eine der Flaschen zu öffnen. Jetzt sah er erstaunt auf.
    »Ich rede nicht von der ganzen Welt. Ich rede von hier, Gustav-Rautner-Weg Nummer neununddreißig.« Er wandte sich wieder dem Flaschenöffner zu und wiederholte kopfschüttelnd: »Auf der ganzen Welt!«
    »Und wie machen Sie es mit der Jahreszeit?«
    Knupp hatte den Kronkorken der ersten Flasche entfernt. »Ich warte ab. Jeder Tag wiederholt sich nach einem Jahr.«
    »Aha, ein Jahr. Jetzt reden Sie doch in Zeitbegriffen.«
    »Damit Sie es verstehen.« Er streckte die Linke aus, Handfläche nach oben. »Hier haben wir den Tag X. Alles ist minutiös vorbereitet, nur das Datum stimmt nicht.«
    Peter Taler betrachtete die Hand. Sie schien ihm etwas weniger zu zittern.
    »Aber hier nähert sich das Datum. Sehen Sie.«
    Knupps Rechte, Handfläche nach unten, kam mit kleinen Hüpfern auf die Linke zu.
    »Es nähert sich und nähert sich und – peng! –«, die beiden alten Hände schmiegten sich aneinander, »erreicht es und verschmilzt für einen Augenblick mit dem Tag X.« Knupp sah seinen Gast herausfordernd an.
    »Es gibt keine identischen Tage. Die Stellung der Planeten ändert sich ständig.« Für Peter Taler war dies der Todesstoß für die absurde Theorie. Aber Knupp tat es mit einem Lächeln ab.
    »Am Gustav-Rautner-Weg Nummer neununddreißig befinden sich keine Planeten.«
    Er löste die vereinten Hände voneinander und nahm sich die zweite Flasche vor.
    Taler sah schweigend zu, wie Knupp sie tatterig öffnete. »Und das?«, fragte er unbarmherzig und deutete mit dem Kinn auf die zitternden Hände.
    »Dafür gibt es Hosentaschen«, war die störrische Antwort des Alten.
    Doch Taler gab nicht auf. »Und dagegen?« Er fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht.
    Knupp verstand sofort. Er ging hinaus und kam mit einem Foto von sich zurück. »Da. Neunzehnhunderteinundneunzig.«
    Taler betrachtete das Bild. Der Mann darauf sah tatsächlich nicht viel jünger aus als der ihm gegenüber.
    Knupp deutete auf seine Stirn: »Oberes Facelifting«, deutete auf Wangen und Hals: »Unteres Facelifting«, dann auf seine Augendeckel: »Lidlifting. Verstehen Sie? Plus Botox. An die zehntausend Franken habe ich investiert.« Er reichte Taler eine Flasche und prostete ihm zu. »Auf den Tag X.«
    »Welcher ist es?«, fragte Taler.
    »Der elfte Oktober neunzehnhunderteinundneunzig.«
    »Weshalb gerade der?«
    »Es ist der Tag, von dem ich die meisten Fotos besitze. Kommen Sie.«
    Knupp führte ihn in das Nebenzimmer. Ein schwerer Schreibtisch mit einem Drehstuhl, dessen Sitzfläche mit dickem grauem Filz gepolstert war, stellte das wichtigste Möbelstück des Raumes dar. Darüber eine Pinwand voller Notizen und Fotos. Auch die Tischplatte war übersät mit Zetteln und Dokumenten. Sie waren nach einem undurchschaubaren System geordnet, jeder Stapel beschwert mit bemalten und lackierten Steinen. »Schülergeschenke«, kommentierte Knupp mit schiefem Lächeln.
    Auch hier hingen künstlerische Schwarzweißbilder und gerahmte Fotos von Knupps verstorbener Frau in verschiedenen Phasen ihres Lebens.
    Die Wände auf beiden Seiten des Fensters waren bedeckt mit gerahmten Ehrenmeldungen und gravierten Scheiben und Tellern. Preise von Schießwettbewerben und Schützenfesten. Ein vom Boden bis zur Decke reichendes Holzgestell diente ausschließlich den Schießtrophäen, die sich nicht an die Wand hängen ließen: Becher, Skulpturen, Pokale, Schnitzereien.
    »Nur das Wichtigste«, erklärte Knupp, »der Rest steht auf dem Dachboden.«
    Knupp ging zum Vitrinenschrank neben dem Fenster, dessen Scheiben innen mit einem gefältelten weinroten Tuch bespannt waren. Er öffnete eine Tür, nahm zwei Ordner heraus und brachte sie zum Schreibtisch.
    »Am elften Oktober neunzehnhunderteinundneunzig habe ich eine Leica ausprobiert, die mir ein Bekannter zum Kauf angeboten hatte. Sechs Filme habe ich verbraucht. Über zweihundert Fotos an einem Tag.«
    Die Ordner enthielten eine Sammlung Schwarzweißfotos,

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