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Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Titel: Die Zeit, die Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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jeweils vier auf einen gelochten Halbkarton geklebt und nummeriert. Es waren Stillleben aus Haus und Garten – eine Klöppelarbeit auf einem Sessel, eine Zeitung neben einer leeren Kaffeetasse, ein Setzholz neben Blumenzwiebeln. Da waren Gesamtansichten, Teilansichten von Zimmern, Teppichen, Vorhängen. Peter erkannte das Wohnzimmer, in dem sie jetzt waren, den Korridor, den Garten. Und er sah andere Räume, die zum Haus gehörten.
    Im zweiten Ordner waren Fotos von Knupps Frau. Porträts in unterschiedlichem Licht und Schnappschüsse, auf denen sie übermütig lachte, abwinkte oder ihr Gesicht verdeckte.
    »Fast fünfzig. Würde man ihr nicht geben.«
    Knupps Stimme hatte sich verändert. Taler schaute ihn an und sah, dass er lächelte.
    »Das war ein schöner Tag«, sagte er versonnen.
    »Und den möchten Sie wiederhaben.«
    »Und alle neuen, die ihm folgen werden.«
    Sie gingen zurück ins Wohnzimmer, aber Taler trank die Flasche im Stehen leer. »Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie es geschafft haben.«
    Jetzt stand auch Knupp auf. »Sie werden es erfahren.«

6
     
    In dieser Nacht lag Peter Taler lange wach. Er hatte die seltsame Atmosphäre in Knupps Haus nicht abschütteln können, sie hatte sich in seiner eigenen Wohnung breitgemacht. Wohin er blickte, sah er die Zeichen von Lauras Gegenwart. Ihre Sammlung komischer Schirme neben der Garderobe, der Stapel sorgfältig auf ein einheitliches Format gefalteter Kaschmirschals auf der Hutablage, die Post-its mit Telefonnummern und Gedächtnisstützen am Garderobenspiegel, ihre Kosmetika auf dem Schminktisch im Schlafzimmer, ihre Kleider in ihrem Teil des Kleiderschranks, ihr Hirsekissen auf ihrer Seite des Bettes. Ihr ganzes unverändertes Arbeitszimmer. Ihre ganze unverminderte Gegenwart.
    Bis jetzt hatte er diese Zeichen als Versuch betrachtet, Lauras Fehlen die Endgültigkeit zu nehmen. Als seine Art, den Tatsachen nicht ins Auge blicken zu wollen. Aber nach dem Abend bei seinem Nachbarn sah er diese Spuren mit anderen Augen. Machte er das Gleiche wie der alte Knupp? Versuchte auch er, die Veränderung aufzuheben? Und damit die Zeit?
    Er war nach den vier Bier auf leeren Magen – mit einem hatte er sich noch in der Wohnung Mut zu dem Besuch gemacht – ein wenig angetrunken nach Hause gekommen. Auf eine unangenehm dumpfe Art – wie immer, wenn er den Moment verpasste, von Bier auf Rotwein umzusteigen. Er hatte sich ein letztes Fläschchen genehmigt und vergeblich versucht, die unwirkliche Stimmung zu vertreiben, die er von Knupps Haus mitgebracht hatte.
    Dann hatte er sich ins Bett gelegt und war sofort eingeschlafen. Als er erschrocken erwachte, weil er glaubte, verschlafen zu haben, war es erst kurz nach zwei.
    Seither lag er wach. Seine Gedanken kreisten um Knupp. Abgesehen von dessen Manie, der Zeit ein Schnippchen zu schlagen, klang und wirkte er nicht verrückter als die meisten Leute, die Taler kannte. Auch die Möglichkeit, der alte Mann könnte etwas mit Lauras Tod zu tun haben, kam ihm nach dieser Begegnung höchst unwahrscheinlich vor.
    Als es ihm dann doch gelang einzuschlafen, geriet er in den Strudel wilder Träume. Immer kam Knupp vor. Knupp als junger Mann, Knupp als Schwerinvalider, Knupp als Fotograf, Knupp als Gärtner. Auch seine Frau kam vor, Knupps ständig fröhliche Frau.
    Einmal schreckte er aus dem Schlaf, weil er nackt mit ihr im Bett lag. Sie fasste ihm lächelnd zwischen die Beine, und ihr Mann fotografierte.
    Er stand auf und ging ins Bad. Das Gesicht, das ihm im Spiegel entgegenblickte, sah fremd aus. Die linke Gesichtshälfte war zerknittert, das Auge halb geschlossen, der Mundwinkel nach unten gezogen, als wäre es beim Erwachen erstarrt.
    Taler schnitt ein paar Grimassen zur Lockerung der Gesichtszüge und ging zurück ins Bett.
    Wieder suchten ihn die Träume heim. Laura in Knupps Wohnzimmer mit einer Klöppelarbeit auf dem Schoß. Er sprang auf sie zu, nahm sie in die Arme und küsste sie. Sie küsste zurück, und als sie beide Atem holten, lachte sie und – war Knupps Frau.
    Taler erwachte mit einem Schrei. Es war kurz nach fünf. Er trank von seinem Mineralwasser und zwang sich, tief und regelmäßig zu atmen.
    Laura klingelte. Er wusste jetzt, dass es um Leben und Tod ging. Sie klingelte wieder, in immer kürzeren Abständen. Peter wollte zur Tür eilen, doch sosehr er sich auch anstrengte, er kam nicht vom Fleck.
    Er erwachte, weil jemand laut weinte, und merkte, dass er es war.
    Es klingelte noch immer. Bis er die

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