Die Zeit, die Zeit (German Edition)
konnte nicht gleich antworten, weil seine Stimme versagt hätte. Er holte Luft, biss sich auf die Lippen und hielt die Hand wie nachdenklich an den Mund. So, wie er es bei all den vielen Gelegenheiten tat, bei denen ihn die Tränen übermannten.
»Ich weiß«, sagte Frau Neuschmid einfühlend, »Trennungen tun weh.«
Peter Taler nickte. Antworten konnte er nicht.
»Lassen Sie sich Zeit.« Sie wandte sich diskret ab, bis Taler sich wieder im Griff hatte. »Sie ist tot«, gelang es ihm zu sagen.
Frau Neuschmid erstarrte. »Um Himmels willen! Sie sah so gesund aus.«
»Ermordet.« Taler kannte die Wirkung dieser brüsken Antwort. Aber die Wut, die sie jedes Mal in ihm auslöste, half ihm für einen Moment über die Trauer hinweg.
Die Frau berührte seinen Unterarm und schwieg.
»Erschossen«, fügte Peter hinzu.
»Von wem?«
Er machte eine hilflose Handbewegung.
»Man weiß es nicht?«
»Ich werde es herausfinden.«
Frau Neuschmid nickte, als hätte sie nicht die geringsten Zweifel. Sie ließ seinen Arm los und fragte: »Und die Auskunft, die Sie von mir wollten?«
»Ich wusste nicht, dass Laura sich für solche Fragen interessiert, wie sie das Buch behandelt. Hat sie etwas dazu gesagt?«
»Gesagt? Nein, sie kam herein und fragte nach dem Buch. Ganz gezielt.«
»War sie schon früher bei Ihnen?«
»Sie kam seit Jahren. Sie suchte Bildvorlagen. War sie nicht Zeichnerin?«
»Illustratorin.«
»Genau. Das hat sie mir einmal gesagt. Wissenschaftliche Illustrationen, nicht wahr?«
Taler nickte. »Aber zum Thema ›Zeit‹ hat sie davor noch nie etwas gesucht?«
»Nein, daran würde ich mich erinnern.«
»Warum?«
»Junge Leute interessieren sich nicht für das Thema. Es sind die älteren. Ich habe Stammkunden, für die ich alles beiseitelegen muss, was das Thema betrifft. Deshalb habe ich mich ja auch gewundert über den Suchauftrag Ihrer Frau.«
»Ist es denn normal, dass Sie das Buch einfach per Nachnahme zustellen, wenn Sie es gefunden haben?«
»Wenn der Preis innerhalb des festgelegten Budgets liegt, dann schon. So lautet die Abmachung.«
»Kommt es oft vor, dass es so lange dauert, bis Sie ein gesuchtes Buch gefunden haben?«
»O ja. Manchmal dauert es noch länger.«
»Länger als ein Jahr?«
»Das nicht. Aber so ein halbes schon.«
Peter sah sie verwundert an. »Bei Laura hat es aber über ein Jahr gedauert.«
»Nein, nein, da irren Sie sich. Ein paar Monate vielleicht. Höchstens sechs.«
Taler schüttelte den Kopf. »Frau Neuschmid«, sagte er, »Laura ist schon über ein Jahr tot.«
Sie überlegte. »Ganz unmöglich«, sagte sie schließlich, »es war kurz vor Weihnachten. Da bin ich mir sicher.«
»Das ist nicht möglich, Frau Neuschmid.« Es klang nachsichtig. Er hatte keine Lust, sich auf eine Diskussion einzulassen.
Sie schüttelte den Kopf und sagte, mehr zu sich als zu ihm: »Woher ihr jungen Leute immer so genau zu wissen glaubt, was möglich ist und was nicht.«
Peter gab auf. »Vielleicht haben Sie recht, es könnte auch weniger lang her sein.« Er drückte ihre knochige Hand und bedankte sich für die Auskunft.
»Andererseits«, lächelte sie, »ich und die Zeit…«
7
Auf dem zweiten Schreibtisch stand ein Blumenstrauß.
Peter Taler schloss die Fenster, denn es war ein kühler Morgen, und setzte sich an seinen Bildschirm. Er wollte von der neuen Bürokollegin bei der Arbeit angetroffen werden.
Der gestrige Abend war der erste seit Lauras Tod, den er nicht damit verbracht hatte, aus dem Fenster zu starren. Er wusste ja jetzt, was an jenem Abend anders gewesen war, und es gab Wichtigeres zu tun. Er musste Lauras geheimes Leben erforschen.
Er hatte sich mit Barbara Vollger, Lauras Freundin, mit der sie die letzten Stunden verbracht hatte, für den nächsten Tag zum Mittagessen verabredet. Von ihr wollte er erfahren, ob sie sich für die Theorie der nicht existierenden Zeit interessiert hatte. Und sei es auch nur, um ihm damit einen Streich zu spielen.
An diesem Abend durchsuchte er Lauras Computer nach dem Stichwort zeit . Das Resultat war ein Ordner mit dem Namen Hochzeit. Er enthielt eine Gästeliste, mehrere Versionen der Tischordnung, die Tischkärtchen und verschiedene Entwürfe der Heiratsanzeige. Einer davon hatte zu einer Auseinandersetzung geführt. Er zeigte, in Lauras fotorealistischer Technik illustriert, eine Gottesanbeterin beim Verspeisen des Männchens nach der Paarung. Peter hatte nie herausgefunden, wie ernst ihr der Vorschlag wirklich war.
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