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Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Titel: Die Zeit, die Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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dass die Zeit eine Illusion sei. Der Autor hatte dem Werk das Motto vorangestellt: »Noch nie ist etwas in der Vergangenheit geschehen und noch nie etwas in der Zukunft.«
    Laura sollte diese wissenschaftlich-philosophische Abhandlung bestellt haben? Seine unbeschwerte Laura? Die ihm vorwarf, er bringe es nicht fertig, im Hier und Jetzt zu leben? Die ihn auslachte, wenn er im Mai die Sommerferien planen wollte? Die nie pünktlich war, weil Pünktlichkeit die Mutter aller Burnouts sei? Seine leichtlebige Laura wollte sich ernsthaft mit Fragen nach Zeit und Ewigkeit befassen?
    Zuerst fand er die Vorstellung absurd. Aber in Anbetracht von Lauras Widerspruchsgeist hätte ihr ein Buch, das bewies, dass es die Zeit nicht gab, sehr gelegen kommen können. Vielleicht hatte sie es nur zum Zweck bestellt, ihm die Theorie unter die Nase zu reiben, wenn er sie wieder einmal mit seiner Überpünktlichkeit nervte.
    In seinem Büro waren die Fenster geöffnet, und es roch nach Putzmitteln. Eine junge Frau im Overall der Reinigungsfirma war dabei, den Schrank seines früheren Bürokollegen sauber zu machen. Auf dem verwaisten Schreibtisch stand wieder ein Computer. Bernoulli, der IT -Mann der Firma, saß davor. Beide nickten Taler flüchtig zu und fuhren mit ihrer Arbeit fort.
    »Was geht hier vor?«, fragte Taler.
    Die Putzfrau lächelte. »Nicht Deutsch.«
    Bernoulli sagte: »Bin gleich fertig.«
    »Womit?«
    »Arbeitsplatz konfigurieren für deine neue Kollegin.«
    »Ach so, stimmt«, murmelte Taler. Er wollte nicht, dass Bernoulli merkte, dass man es nicht einmal für nötig befunden hatte, ihn zu informieren. Er tat, als würde er arbeiten, und wartete, bis die beiden gingen.
    Sobald er wieder allein war, nahm er das Buch aus der Mappe und googelte nach dem Autor Walter W. Kerbeler.
    Die Suche führte ihn in die seltsame Welt der Zeitzweifler, Zeitleugner und Zeitabschaffer. Von Aristoteles, für den es weder die Vergangenheit noch die Zukunft gab, über Einstein, dessen Relativitätstheorie die Gegenwart und damit auch Vergangenheit und Zukunft in Frage stellte, bis zu den Anhängern der Gravimotion, die sagten, Zeit existiere nicht, weil sie nicht physisch erfahrbar sei.
    Walter W. Kerbeler war 1988 gestorben. Sein Hauptwerk, Der Irrtum Zeit, war bereits 1976 erschienen und von der Fachwelt nicht ernst genommen worden. Es wurde einige Male von verschiedenen, immer etwas sonderbaren Verlagen in kleinen Auflagen nachgedruckt, erschien nach seinem Tod (»als verbitterter Mann«, wie es in einer kurzen Biographie hieß) im Verlag einer Gruppe von Anhängern seiner Theorie in mehreren Übersetzungen und war seit einer Spaltung dieser Kerbelianer kurz vor der Jahrtausendwende vergriffen.
    Das war nicht die Welt seiner realitätsverbundenen Laura. Das war die Welt des verschrobenen Albert Knupp. Konnte es sein, dass sie mit ihm Kontakt gehabt hatte?
    Taler verwarf den Gedanken. Nicht, dass er undenkbar gewesen wäre, aber Laura hätte ihm bestimmt davon erzählt.
    Die Nelkengasse war eine kurze Sackgasse am Rande der Altstadt. Keine Passantenlage, nur der Zugang zu den schmalen Wohnhäusern und zu ein paar Geschäften mit niedrigen Mieten. Eines mit esoterischen Nippes, eines mit Bastelartikeln, eines mit Modelleisenbahnen. Das Antiquariat Librorum lag in dem querstehenden Haus, das die Gasse abschloss. Vor seinen beiden Schaufenstern standen Schütten mit abgegriffenen Taschenbüchern für einen Franken oder fünfzig Rappen, je nach Zustand.
    »Suchen Sie etwas Bestimmtes, oder möchten Sie sich einfach ein wenig umschauen?«, fragte eine Frau von einer Leiter herab. Sie hatte flammendrotes Haar, musste weit über siebzig sein und sah zu zerbrechlich aus, um noch auf Leitern zu steigen.
    »Ich brauche eine Auskunft«, antwortete Peter, »es geht um dieses Buch, Frau Neuschmid hat es mir geschickt.«
    »Ich bin Frau Neuschmid.« Sie kletterte umständlich herunter und kam näher. Ihre zarte Haut hatte eine Unmenge winziger Fältchen, sie trug schwungvolle Lidstriche und hatte die Lippen verschwenderisch mit Dunkelrot nachgezogen.
    Sie warf einen Blick auf das Buch. »Das habe ich nicht Ihnen geschickt, das ging an eine Kundin.«
    »Laura Wegmann, ich weiß, meine Frau.«
    Sie sah ihn forschend an. »Eine hübsche Frau. Sehr ungewöhnlich. Die Sommersprossen und hellgrünen Augen bei diesem schwarzen Haar und dunklen Teint.«
    Taler nickte und spürte, wie ihm die Tränen kamen.
    »Was ist mit ihr? Haben Sie sich getrennt?«
    Er

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