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Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Titel: Die Zeit, die Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Schon damals hatte er den Verdacht gehabt, sie habe ihn nur so verbissen verteidigt, weil er sie mit seiner spontanen und humorlosen Ablehnung dazu gebracht hatte. Inzwischen war er sich ganz sicher.
    Die übrigen Dokumente im Ordner waren Hochzeitsfotos. Sie waren das Geschenk eines Mitschülers aus der Kunstgewerbeschule, der sich inzwischen als Fotograf einen Namen gemacht hatte. Darunter seine beiden Lieblingsfotos von Laura. Auf dem einen tanzte sie mit bis über die Knie geschürztem Hochzeitskleid auf dem Tisch neben einer älteren Dame – einer Tante, soweit er sich erinnerte –, die mit der Linken ihr Dessert und mit der Rechten ihr Gesicht vor Lauras hochgeworfenem rechten Bein schützte. Auf dem anderen hatte sie ihren Kopf auf seine Schulter gebettet und schlief wie ein übermüdetes Kind. Beides war seine Laura: die burschikose, übermütige, selbstsichere Frau. Und das anschmiegsame, stille, schutzbedürftige Mädchen.
    Er war früh zu Bett gegangen und hatte nach einer Stunde voller Gedanken an sie eine Schlaftablette genommen.
    Am nächsten Morgen hatte er auf dem Sims von Knupps Wohnzimmerfenster die schwarze Katze aus einem Tellerchen fressen sehen.
    Kurz vor neun klopfte es, und Perluccis Sekretärin führte Talers neue Bürogenossin herein.
    »Darf ich vorstellen: Herr Taler, Ihr Bürokollege«, sagte sie strahlend.
    Er stand auf und gab ihr die Hand. »Betty Zehnder, freut mich«, sagte sie. Die Mischung aus Scheu und Neugier in ihrem Blick sagte ihm, dass man sie über seine Tragödie aufgeklärt hatte. Sie war eine kleine, etwas füllige Frau, höchstens Mitte zwanzig. Sie hatte ein hübsches Gesicht, das bald etwas matronenhaft sein würde, und trug, wie es zurzeit viele junge Frauen in aller Unbefangenheit taten, ein verwirrend tief ausgeschnittenes Kleid.
    Es entstand eine kleine Verlegenheitspause, die Taler mit »herzlich willkommen« beendete.
    »Danke«, antwortete Frau Zehnder und schenkte ihm ein Lächeln.
    Sie freute sich artig über den Blumenstrauß, die zehn Gratis-Chips für die Kaffeemaschine und das Versprechen, dass sie sich mit allen Fragen ungeniert an unseren langjährigen Herrn Taler wenden dürfe, »nicht wahr?«. Damit ließ Perluccis Sekretärin sie mit Taler allein.
    Frau Zehnder legte ihr Handy auf den Schreibtisch und nahm etwas Gelbes aus der Handtasche. Sie zeigte es Taler. »Spongebob. Mein Maskottchen.« Es sah aus wie ein viereckiger Schwamm mit Armen und Beinen, Glotzaugen und einem Zahnlückengrinsen. »Ohne ihn läuft bei mir nichts.«
    Das Ding besaß einen Saugnapf am Rücken. Frau Zehnder benetzte ihn mit der Zunge und pappte ihn auf den Bildschirm. »Na dann.«
    Sie begann, die Papiere zu studieren, die man für sie bereitgelegt hatte. Organisationshandbuch, Organigramm, Kontenpläne, Debitoren- und Kreditorenliste.
    In der folgenden knappen Stunde vergaß Peter Taler manchmal ihre Anwesenheit. Es war ihr Parfum, das sie ihm in Erinnerung rief. Es war nicht aufdringlich oder unangenehm, einfach ungewohnt. Es wirkte fremd in diesem Raum, wo er einen so großen Teil seines Lebens verbrachte.
    »Darf ich Peter sagen?«
    Die Frage kam so überraschend, dass er »okay« gesagt hatte, bevor er sich die Antwort überlegen konnte.
    »Ich heiße Betty.«
    »Okay«, sagte er wieder. Dabei hatten Laura und er sich immer lustig gemacht über die Okay-Sager.
    »Peter, wenn du nicht darüber sprechen willst, verstehe ich das total.«
    »Schon gut.«
    »Ich habe gehört, was passiert ist. Der absolute Horror.«
    Er spürte die Tränen und konnte nur nicken.
    Er war vor Barbara im Blumenegg und bestellte ein Mineralwasser. Das Restaurant war beliebt bei den Angestellten der umliegenden Firmen wegen seiner raschen Bedienung, einfachen Menüs und günstigen Preise. Er hatte einen Tisch mitten im Raum bekommen, obwohl er telefonisch einen Randtisch bestellt hatte. Er mochte es nicht, wenn man ihm von allen Seiten auf den Teller schauen konnte, aber die Kellnerin sagte, wenn ein Randtisch frei gewesen wäre, hätte er einen Randtisch bekommen.
    Barbara traf außer Atem mit fast zwanzig Minuten Verspätung ein und begrüßte ihn mit: »Ich hoffe, du hast schon bestellt.«
    Taler hatte sie nie besonders gemocht. Sie kannte Laura viel länger, und es hatte ihn immer gestört, dass sie mehr über sie wusste als er. Einmal im Monat hatten die beiden Freundinnen zusammen einen Frauenabend verbracht. Und wie oft sie gemeinsam zu Mittag aßen, wusste er nicht, ihre Arbeitsplätze

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