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Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Titel: Die Zeit, die Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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verschloss das Türchen mit der anderen.
    Taler machte jetzt seinen Briefkasten auf. Die gleichen Werbesendungen, die Keller in der Hand hatte, aber keine Rechnung. Nur ein brauner unfrankierter Umschlag. Er war von Hand adressiert. In einer sauberen, altmodischen Handschrift.
    Keller, der höflich darauf gewartet hatte, die paar Meter zur Haustür gemeinsam mit seinem Nachbarn zurückzulegen, sagte »na dann« und ging.
    Taler beachtete ihn nicht. Mit dem Zeigefinger riss er den Umschlag auf. Er enthielt zwei Fotos. Beide zeigten die Stelle, wo er gerade stand. Und auf beiden war – einmal scharf, einmal verwischt – Laura zu sehen.
    Knupp öffnete die Haustür und winkte ihn herein. Taler folgte ihm ins Wohnzimmer und setzte sich auf den angebotenen Stuhl am Esstisch.
    »Bier?«, fragte Knupp.
    Er lehnte ab, verschränkte die Arme und wartete.
    Aber auch der alte Mann schwieg.
    Er sah verändert aus. Der schwarze Bart war frisch getrimmt, die weißen Stoppeln, die den merkwürdigen Kontrast zu dem unnatürlichen Schwarz gebildet hatten, waren weg. Das Toupet war besser in die verbliebenen Haare integriert. Knupp war beim Friseur gewesen.
    »Haben Sie noch mehr davon?«, fragte Taler schließlich.
    Knupp ließ die Frage unbeantwortet.
    »Was wollen Sie?«
    Der Alte sah auf seine übereinanderliegenden zitternden Hände. Dann hob er das Gesicht und sah Taler in die Augen. »Hilfe.«
    »Hilfe? Von mir?«
    »Ich von Ihnen, Sie von mir.«
    »Und wobei sollen wir uns helfen?«
    »Beim Gleichen. Beim Wiedersehen mit unseren Frauen.«
    Talers erster Reflex war es, aufzustehen und zu gehen. Aber dann fragte er doch: »Und wie wollen Sie das bewerkstelligen?«
    »Ich dachte, Sie hätten es verstanden.«
    »Apfelbäume neu pflanzen?«
    Die Frage klang spöttisch, aber Knupp ließ sich nicht provozieren. »Unter anderem.«
    »Vergessen Sie es. Die Zeit kann man nicht zurückdrehen.«
    Knupp schüttelte nachsichtig den Kopf. »Man braucht sie nicht zurückzudrehen. Es gibt sie nicht.«
    Taler stieß einen resignierten Seufzer aus. »Wobei soll ich Ihnen also helfen?«
    Knupp öffnete das Stahlband seiner Armbanduhr und schob sie zu Taler hinüber. Es war ein klobiger Chronometer einer unbekannten Marke mit schwarzem Zifferblatt und schwarzweißen Zeigern. »Konzentrieren Sie sich auf den Sekundenzeiger.«
    Peter sah den schlanken Zeiger über die Sekundenmarken gleiten.
    »Sehen Sie die Gegenwart? Nein, Sie sehen sie nicht. Sie ist immer schon vorbei. Auch wenn Sie die Sekunden halbieren, durch zehn teilen, durch hundert, tausend. Auch wenn Sie Millionstel, Milliardstel daraus machen – immer schon vorbei.«
    Taler löste den Blick von dem rastlosen Zeiger und sah zu dem alten Mann hinüber.
    »Sie können die Sekunden unendlich teilen und trotzdem die Gegenwart nicht festhalten – und wissen Sie, warum? Weil es sie nicht gibt. Nicht gibt, nicht gegeben hat und nicht geben wird. Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft: alles Mumpitz. Die Zeit existiert nicht.«
    Knupp sah ihn herausfordernd an.
    Schließlich sagte Peter Taler: »Daran glaube ich nicht.«
    Wie um das Thema abzuschließen, antwortete Knupp: »Laura tat es.« Er stand auf und ging hinaus.
    Taler folgte ihm in die Küche. Dort stand er vor dem Kühlschrank und entnahm ihm zwei Fläschchen Bier.
    »Was wissen Sie von Laura?«, herrschte Taler ihn an. Er hatte sich vor dem einen Kopf kleineren Mann aufgebaut und versperrte ihm den Weg.
    »Lassen Sie mich vorbei. Ich erzähle es Ihnen bei einem Bier.«
    Peter Taler machte Platz und folgte ihm zurück ins Wohnzimmer. Noch bevor sie sich wieder an den Tisch gesetzt hatten, fragte er: »Hatten Sie Kontakt zu Laura?«
    Knupps zitternde Hand führte das Bier an die Lippen. Erst nachdem er einen Schluck getrunken hatte, kam die Antwort. »Wir haben manchmal ein wenig geplaudert. Über den Gartenzaun.«
    Auch an Tagen, an denen Laura nicht zu Hause arbeitete und in den Verlag ging, hatte sie andere Arbeitszeiten als Peter. Es war also möglich, dass sie mit dem Nachbarn ab und zu ein paar Worte gewechselt hatte, ohne dass er dies mitbekam. Sie war sehr kontaktfreudig. »Und dabei haben Sie sich über philosophische Fragen unterhalten?«
    »Nein, nein. Über alltägliche Dinge. Das Wetter, den Garten, Pflanzzeiten. Laura interessierte sich ja für die Anthroposophie und die biologisch-dynamische Landwirtschaft.«
    »Hat sie das gesagt?«
    »Ich habe sie einmal auf ihre Einkaufstasche angesprochen, weil da Demeter

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