Die Zeit, die Zeit (German Edition)
Gegensprechanlage erreicht hatte, antwortete niemand mehr. Er eilte zum Fenster und sah gerade noch das Moped mit dem gelben Anhänger losfahren.
Der Briefträger! Dann musste es kurz vor halb acht sein.
Zehn Minuten später setzte er sich mit noch feuchten Haaren und unrasiert hinters Steuer. Der Motor lief bereits, als ihm der Briefträger einfiel. Er stieg noch einmal aus und holte die Abholungseinladung aus dem Briefkasten.
Sie war adressiert an Frau Laura Wegmann Taler.
Bevor er wieder einstieg, sah er zu Knupps Garten hinüber. Der Alte stand zwischen seinen beiden Apfelbäumen. Peter winkte ihm zu. Knupp nickte. Langsam und nachdrücklich, als wäre etwas eingetroffen, das er hatte kommen sehen.
Ohne die neue Baustelle hätte er es noch knapp geschafft. Aber die Kipphydraulik eines Lastwagens, der soeben eine dampfende Ladung Teer abgeladen hatte, war defekt. Der Fahrer versuchte zuerst, den Schaden zu beheben, und es dauerte lange, bis er sich entschloss, den Lastwagen mit hochgekippter Mulde aus dem Weg zu manövrieren.
Erst jetzt sah Taler das Firmensignet auf der Fahrertür: »Feldau & Co. Hoch- und Tiefbau«. Sein eigener Arbeitgeber.
Mit einer guten halben Stunde Verspätung stempelte er ein. Aber er schaffte es noch, bevor Kübler die Post brachte, und auch Gerber hatte nach Auskunft der Telefonistin noch nicht nach ihm gefragt.
Mit schwerem Kopf und fahrigen Händen saß er vor dem Bildschirm und versuchte, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Der Abend bei Knupp, die Nacht voller Albträume und das böse Erwachen durch das Klingeln des Briefträgers saßen ihm in den Knochen.
Lauras Präsenz in der letzten Nacht war durch die geheimnisvolle Post an sie noch greifbarer geworden. Wer schickte jemandem ein Paket, der schon über ein Jahr tot war?
Bis morgen musste er warten, bis er zur Post gehen und das Rätsel lösen konnte. Wenn die Zeit nicht existiert, dachte er, weshalb verstreicht sie dann jetzt so quälend langsam?
Knupp würde vielleicht sagen, es liege an seiner eigenen Langsamkeit. Die Dinge veränderten sich zu wenig schnell, auf dem Bildschirm blieb minutenlang alles gleich, seine Hände lagen reglos neben der Tastatur, sein Atem ging träge, wie bei einem Schlafenden. Er lieferte die Indizien, dass Zeit vergehe, in einer zu niedrigen Kadenz.
In der Mittagspause des nächsten Tages ging er zur Post. Sie war voller Leute, die auf das Aufleuchten ihrer Nummer warteten. Peter Taler zog die Hundertvierzehn, zweiunddreißig Kunden kamen vor ihm an die Reihe. Er mischte sich unter die Wartenden und sah, wie diese, bei jedem Klingelzeichen zuerst auf die Anzeige und dann auf seine Nummer.
Erst knapp die Hälfte der Nummern vor ihm war aufgerufen worden. Peter ging hinaus an die frische Luft und betrachtete den Verkehr und die Passanten. Die meisten sahen aus wie Berufstätige, die in ihrer kurzen Mittagspause so viel wie möglich erledigen wollten. Wie er.
Ein Jugendlicher kam auf einem Moped angefahren, schaltete den Motor aus und parkte das Gefährt neben dem Fahrradständer. Der Schriftzug auf dem Kettenschutzblech kam Peter bekannt vor: »ciao«, in einer gedrungenen Antiqua. Das Moped, das auf Lauras letztem Foto aus dem Bild fährt, zuckte es ihm durch den Kopf. Die ersten drei Buchstaben – cia – hatte er erkennen können.
Er nahm sich vor, Giovanni Marti, den Detektiv, darauf aufmerksam zu machen.
Die Veränderung hatte die Zeit tatsächlich schneller vergehen lassen. Als er in die Schalterhalle zurückkam, wurde gerade seine Nummer aufgerufen. Er ging zum Schalter, wies sich aus, bezahlte die Nachnahme von neunzehn Franken dreißig und bekam das Paket ausgehändigt. Der Absender war ein Buchantiquariat.
Taler konnte seine Neugier nicht zügeln. Er ging zu einem der Stehpulte, die zum Ausfüllen von Formularen bereitgestellt waren, und öffnete das Paket.
Es enthielt ein Buch. Der Irrtum Zeit von Walter W. Kerbeler.
Dem Buch war eine Ansichtskarte beigelegt, ein Schwarzweißfoto des Rheinfalls mit dem Schloss Laufen aus dem Jahr 1925.
Auf der Rückseite stand in einer regelmäßigen altmodischen Handschrift:
Sehr geehrte Frau Wegmann,
ich freue mich, Ihnen nun endlich Der Irrtum Zeit zustellen zu können. Ich verstehe nicht, weshalb ein Buch, für das eine derart große Nachfrage besteht, nicht mehr nachgedruckt wird.
Mit freundlichen Grüßen
Louise Neuschmid
Antiquariat Librorum
Nelkengasse 64
Es handelte sich offenbar um eine schwer lesbare Abhandlung darüber,
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