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Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Titel: Die Zeit, die Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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draufstand.«
    Das stimmte, Laura hatte, wenn möglich, biologisch eingekauft. Aber daraus abzuleiten, dass sie sich für Anthroposophie interessierte, war Unsinn. »Und über die Anthroposophie sind Sie auf das Phänomen Zeit gekommen.« Taler legte so viel Sarkasmus wie möglich in seine Stimme.
    Aber Knupp ging nicht darauf ein. »Nein, das war bei einer anderen Gelegenheit. Eines Morgens ging sie vorbei, und als ich Anstalten machte, ein wenig zu tratschen, sagte sie, sie hätte keine Zeit. Ich antwortete: ›Die Zeit existiert nicht.‹ Sie lachte, aber ein paar Tage später kam sie darauf zurück. Sie wollte wissen, wie ich das gemeint hätte. Ich erklärte ihr das Gleiche wie Ihnen.«
    Peter schwieg betroffen. Konnte das sein? Schon möglich, dass Laura den Ehrgeiz gehabt hatte, den verschlossenen, unfreundlichen Nachbarn aus dem Busch zu locken. Aber wenn es ihr gelungen wäre, hätte sie es bestimmt stolz erzählt.
    Oder hatte sie es ihm vielleicht doch verschwiegen? Wie damals, als sie sich in einen Kurs für ein Computer-Illustrationsprogramm eingeschrieben hatte, ohne sich vorher mit ihm abzusprechen? Er hatte es nur zufällig erfahren, als er mit ihr das Menü für den kommenden Freitag – Freitag war sein Kochtag – besprechen wollte. »Ach«, sagte sie obenhin, »am Freitag habe ich Kurs.«
    Es stellte sich heraus, dass sie drei Monate lang jeden Freitagabend von sieben bis zehn an diesem Lehrgang teilnehmen würde. Als er sie fragte, weshalb sie eine so wichtige Entscheidung nicht mit ihm gemeinsam treffe, hatte sie geantwortet, es sei ja eine berufliche, und er interessiere sich ohnehin nicht für ihren Beruf.
    Es war eine ihrer letzten ernsthaften Auseinandersetzungen gewesen und gipfelte in Lauras Vorwurf, dass sie immer mehr aneinander vorbeilebten und er schuld daran sei. Sie hatten den Streit drei Tage schwelen lassen, was gegen eine ihrer wichtigsten Eheregeln verstieß, nämlich sich stets vor dem Schlafengehen zu versöhnen. Auch das, behauptete Laura, sei ein Anzeichen für dieses Auseinanderleben.
    Taler hatte die Sache ad acta gelegt, ohne sie auszudiskutieren – er hasste Ausdiskutieren –, und Laura war auch nicht mehr darauf zurückgekommen. Sie besuchte einfach von nun an diesen Weiterbildungskurs, jeden Freitagabend, bis zu ihrem Tod.
    Vielleicht, dachte Taler, hatte sie ihre Gartenzaunbekanntschaft mit Knupp verschwiegen, weil sie dachte, er interessiere sich auch für ihr Privatleben nicht mehr.
    »Machen Sie sich nichts daraus«, tröstete ihn Knupp, »bei allen Paaren gibt es ein Leben, von dem der andere nichts weiß.« Als hätte er Talers Gedanken erraten.
    »Und warum haben Sie sie fotografiert?«
    »Ich beobachte und dokumentiere die Veränderungen in diesem Ausschnitt der Welt. Das gehört zu meinem Experiment.«
    »Welchem Experiment?«
    »Dem Zeitexperiment.«
    »Aha.«
    »Ich versuche, kongruente Fotos zu schießen. Nicht mit Serienbildschaltung, das ist einfach. In größeren Abständen. Immer größeren.«
    »Und wenn es gelingt, glauben Sie, die Zeit sei stehengeblieben.«
    »Sie haben es noch immer nicht begriffen. Wenn es gelingt, ist bewiesen, dass es die Zeit nicht gibt.«
    »Und? Ist es Ihnen schon mal gelungen?«
    »Mein Rekord ist vierundzwanzig Stunden. Kommen Sie.«
    Knupp ging ihm voraus in den Korridor und von dort mühsam die Treppe hinauf in einen Raum, dessen Fenster auf der Rückseite des Hauses lag. Von dort aus sah man auf die Villa Latium, deren Eingang in der Parallelstraße des Gustav-Rautner-Wegs lag. Die Krone einer Birke verdeckte die Hälfte der Sicht auf die Fassade.
    »Mein Vermessungszimmer«, sagte Knupp.
    An einer Wand des Zimmers stand ein Zeichentisch, wie ihn früher die Bauzeichner benutzten. Daneben eine altmodische Leinwand, auf die man von einem angejahrten Projektor auf einem hochbeinigen Gestell Bilder projizieren konnte.
    Die anderen Wände waren tapeziert mit Fotos. Serien aus demselben Blickwinkel, von Hand datiert und mit Filzstiftmarkierungen, die auf kaum sichtbare Unterschiede hinwiesen. An einer Wand hing ein Leuchtkasten, wie ihn die Radiologen benutzen. In Steckschienen hingen Negative. Auf einem Arbeitstisch in der Raummitte befand sich ein zweiter Leuchtkasten. Zu diesem führte ihn Knupp.
    Er schaltete das Licht des Kastens an, nahm zwei nebeneinanderliegende Negative und versuchte, sie mit seinen flatternden Händen übereinanderzulegen.
    »Helfen Sie mir«, sagte er schließlich.
    Taler legte die Negative

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