Die Zeit-Moleküle
seiner Reise gefiel Manny immer am besten, und er befahl dem Lokomotivführer, langsamer zu fahren.
Am gegenüberliegenden Ufer schob sich eine Gruppe von Hausbooten langsam in Littlejohns Gesichtsfeld. Die Kabinen aus Plexiglas schimmerten trüb und schmutzig im Licht der Nachmittagssonne. Die Hausboote konnten noch nicht lange hier sein, gehörten sozialen Außenseitern und verdarben die Aussicht. Er hätte fast seinen Sozialpsychologen aus dem Nachbarwagen zu sich zitiert, unterließ es aber dann, weil die Situation auch allein und in kürzeren Worten analysiert werden konnte. Wäsche hing schlaff von Leinen, die an Deck ausgespannt waren. Holzrauch kräuselte sich aus ein paar Schornsteinen. Ein paar Beiboote tuckerten hin und her. Das schwache Echo von Stimmen wehte durch das offene Abteilfenster. Männer, Frauen und Kinder sangen zusammen irgendein Lied. Manny Littlejohn haßte solche improvisierten Gemeinden. Vögel waren nur noch wenige vorhanden und würden bald für immer verschwunden sein. Die Hausboote würden auch nicht viel länger dauern. Er gab ihnen höchstens noch drei oder vier Jahre. Doch er entdeckte ein paar Beete zwischen den Bäumen, wo die Leute Gemüse angebaut hatten. Die hatten bestimmt auch eine kleine Schule eingerichtet, diskutierten ernsthaft, gaben sich mystischen Anwandlungen und Halluzinationen hin und trieben eine Menge ernsthaften Sex. Er kannte diese Kommunen. Sie lebten von öffentlichen Unterstützungen, trichterten ihren illegalen Kindern ihre eigenen Normen ein und dachten nicht weiter voraus, als ihre Nasenspitze reichte.
Manny lehnte sich zurück, als sich eine Steinböschung zwischen ihn und den Fluß schob. Zwei oder drei Jahre höchstens … Sein Waggon, das perfekte Dekor, seine Fernsehgeräte, sein Telex, sein Bett mit dem diskret eingebauten elektronischen Masturbator – nichts davon gab ihm Garantie und Gewißheit. Er hielt seine linke Hand ins Licht, als der Zug langsam unter einer Gruppe von Bäumen herausglitt. Die gesprenkelte Haut lag in lockeren Falten über den Fingerknochen. Er bemerkte ein deutliches Zittern, eine beunruhigende Aufdringlichkeit des Skeletts unter der Haut.
Zwei oder drei Jahre höchstens noch … Er spreizte die Finger und stellte sich vor, wie die Zeit zwischen ihnen hindurchfloß. Professor Krawschenskys Zeit, seine Chronoküle, die ihn allmählich abnützten, deren Fluß er nicht ausweichen konnte. Nur indem er diesen Chronokülen Widerstand leistete, existierte er hier und heute und nicht dort und irgendwann. Jedes Materie-Atom besaß eine Ladung als Puffer gegen diesen Zeitstrom. Und in jedem seiner Finger waren hundert Millionen von Atomen, und der chronomische Strom zog über und zwischen ihnen vorbei wie das Wasser im Flußbett. In seinem Finger, in seiner Hand, in seinem ganzen Körper. Der Zeitstrom, der ihn abnützte. Deshalb alterte er. Zwei oder drei Jahre höchstens noch. Er legte rasch die Hand wieder aufs Knie.
Doch er hatte mehr als diese Hausboot-Gemeinde. Er hatte Penheniot. Er hatte Zeit, viel Zeit. Denn irgendwann in naher Zukunft würden die Zusammenhänge der chronomischen Abnützung verstanden und sogar auf den Kopf gestellt werden. Krawschensky würde den Strom für ihn umkehren und ihm wieder einen jungen Körper geben. Krawschensky war kein Dummkopf. Oft bedarf es eines Genies, um ein zweites zu entdecken. Er und Krawschensky würden gemeinsam über das Hindernis der Zeit hinwegsteigen, als wäre es nur ein kleiner Gatterzaun. Und falls – Littlejohn lachte leise und beugte sich vor, um wieder aus dem Fenster zu blicken –, und falls sich diese chronomische Harmonie nur als ein anderes Wort für Tod entpuppen sollte, überließ er sich ihr doch mit viel größerer Hoffnung, daß er irgendwo in einem anderen Leben wieder aus dieser Harmonie herauskam, als ihm die Theologen jemals geben konnten.
Der Zug hatte jetzt eine Biegung im Fluß erreicht. Das Wasser bedeckte sich jetzt mit Segel- und Motorbooten. Das waren Touristen, denen der Oberlauf des Flusses zu einsam und düster war. Die Ufer waren gepflastert mit Hotels und Restaurants, Jachtclubs und Plätzen, wo man Tretboote mieten konnte. Fährschiffe pendelten zwischen den Ufern hin und her, Wasser-Skier zogen ihre Schleifen über das Wasser, und die ersten Wasser-Reinigungswerke kamen in Sicht.
Schließlich erreichte der Zug den Bahnhof von St. Kinnow – Littlejohns Bahnhof. Nachdem er zum Stillstand gekommen war, blieb Manny Littlejohn noch ein paar
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