Die Zeit-Moleküle
Minuten im Abteil sitzen. Er hatte es sich zum Prinzip gemacht, nie in Eile zu sein. Das Recht, andere Menschen warten zu lassen, war ein Luxus, den er sich gern leistete. Jeder Idiot konnte andere Menschen anschreien und in Trab bringen. Aber sie in nervöser Spannung und Ungewißheit warten zu lassen, während man selbst gar nichts tat, war ein genialer Zug von Menschenführung.
Als Littlejohn endlich den Glockenzug – einen kleinen Elefanten aus Messing – betätigte, registrierte er befriedigt, wie die Leute aus allen Ecken hervorschossen, um zu liebdienern. Sie brachten es sogar fertig – eine wesentliche Auflage – zu erscheinen, ohne sich vorzudrängen oder ihre Wichtigkeit zu betonen. Deshalb behandelte er sie auch mit großer Höflichkeit: seine Autosek-Ingenieure, seinen Funker, seinen Kammerdiener, seinen Gitarristen, seine Masseuse, seinen Buchhalter, seinen Sozialpsychologen und seinen Leibwächter. Selbst den Stationsvorsteher – seinen Stationsvorsteher – sprach er höflich an, der sich im Schalter versteckt hatte, um ja nicht die Wagentür zu früh aufzumachen. Statt dessen öffnete er sie leider etwas zu spät. Höflichkeit war auch ein Luxus, den er sich leistete. So konnte er am wirksamsten seine Verachtung für Leute zeigen, die von ihm abhängig waren.
Gemessenen Schrittes kam er die Stufen des Waggons herunter und trat auf den roten, mit Gold besäumten Teppich. Nur wenige Leute waren auf dem Bahnsteig versammelt, angelockt von dem seltenen Anblick eines Personenzuges. Schließlich blieb die Seitenlinie für alle Züge geschlossen, abgesehen von den Güterwagen, die bis zur Mole fuhren. Die Station (und der Stationsvorsteher) waren damals, als der Betrieb auf dieser Nebenlinie eingestellt wurde, von Littlejohn gekauft worden, und seine Kreaturen brachen jetzt in Hochrufe aus. Manny nahm die Begrüßung wohlwollend entgegen. Milde und bescheiden sah er in die Runde, wie das alte Männer so an sich haben. Dann lief er bis zum Ende des roten Teppichs und verhielt unschlüssig, das bezaubernde Bild eines alten Gentleman bietend. Doch seine geierartigen Schultern ruckten nach oben, als er nach links und rechts spähte und leise mit der Zunge schnalzte.
Etwas war hier nicht in Ordnung.
Die Autosek-Ingenieure stürzten vorwärts und bauten sich links und rechts von ihm auf, behutsam den roten Teppich meidend.
Der Leibwächter, Krancz, zog seine Augen zu Schlitzen zusammen und marschierte auf und ab, mit seinem Betäubungsrevolver spielend. Es war das offiziell genehmigte Polizeimodell, war aber insgeheim etwas abgeändert worden, um die betäubende Wirkung der Geschosse unbegrenzt zu verlängern.
Der Buchhalter rechnete rasch im Kopf, um wieviel sich Manny Littlejohns Vermögen seit seiner Abreise aus London vermehrt hatte. In diesen drei Stunden um mindestens vier Millionen siebenhundertzweiunddreißig Pfund.
Der Gitarrist, der spanischer Herkunft und mit einer echten Seele geboren war, summte Villa-Lobos und griff in die Saiten.
Und der Stationsvorsteher – ein Mann mit wenig Zivilcourage und ohne Spur einer Seele – machte sich in die Hose (nur ein paar Tröpfchen), weil er überzeugt war, daß alles, was hier schiefgegangen sein mußte, nur seine Schuld sein konnte.
Etwas war tatsächlich schiefgegangen. Und das Niederträchtigste an diesem Fehler war, daß Manny Littlejohn hier in eine Grube stolperte, die er sich selbst gegraben hatte. Er hatte erwartet, daß auch jemand vom Dorf am Bahnhof aufkreuzen würde, um ihn zu begrüßen. Mit geradliniger Doppelsinnigkeit verlangte er, daß sein Besuch sowohl eine Überraschung als auch ein Ereignis mit dem ihm zustehenden Protokoll sein sollte. Bei seinen früheren Besuchen hatte man dieses Problem zufriedenstellend gelöst. Als unerwarteter Besuch sollte er natürlich unangemeldet im Dorf eintreffen. Aber als Gründer hatte er Anspruch auf den schuldigen Respekt. Bei früheren Gelegenheiten hatte eine Reihe von glücklichen Zufällen dieses Paradox möglich gemacht. Seitdem bestand er auf diese Zufälle. Aber wo waren sie? Wo?
Er verließ seinen roten Teppich und ging, verfolgt von zehn ängstlichen Augenpaaren, bis zum Ende des Bahnsteiges, wo dieser in eine Terrasse mündete, die Ausblick auf den Fluß bot. Er verriet seinen Begleitern nichts – durfte ihnen ja gar nichts davon verraten – von dem Konflikt, der in seinem Innern tobte. Unter ihm tobten Motorboote über das Wasser. Die Luft war drückend. Nach sieben regenlosen
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