Die Zeit-Moleküle
Stier.
Liza Simmons wurde im Lauf des Vormittags entlassen. Auch sie schämte sich bei der letzten Untersuchung (wenn auch aus anderen Gründen als Roses Varco). Doch sie war zu diszipliniert, um ihre Scham zu zeigen. Sie hätte gern lautstark gegen die Rückschlüsse protestiert, die die Schwestern machten, als sie die Wunden und Blutergüsse sahen. Doch sie war zu gut erzogen, um sich etwas zu vergeben. Sollten sie sich doch denken, was sie wollten. Nein, sie sollten es eigentlich nicht, aber daran konnte sie auch nichts ändern. Sie war das Mädchen, das sich mit Roses Varco gepaart und mehr bekommen hatte, als sie erwartet hatte. Sie war … nun, man konnte es ja sehen. Sie ging mit hoch erhobenem Kopf aus dem Untersuchungszimmer, aus dem Krankenhaus. Doch über das, was sie erlebt hatte, konnte sie nicht hinwegkommen.
Es war ein warmer Morgen, und ein paar von den Männern, denen sie begegnete, hatten sich der Hitze wegen bereits ihrer Kleider entledigt. Sie lächelte, als man sie grüßte, blickte nach innen und suchte die Wunden ihrer Seele. Die Blutergüsse waren nur oberflächlich und würden rasch abheilen. Doch sie fragte sich, ob sie jemals in ihrem Leben eine männliche Erektion sehen konnte, ohne daß sich ihr Magen erschrocken verkrampfte. Sie fragte sich, ob sie nicht bei jeder Annäherung einen schrecklichen, blinden Angriff fürchtete und mit Abscheu und Ekel reagierte. Sie erkannte die Gefahr sofort. Nach einem Unfall mußte man sofort wieder hinter das Steuer. – Sie mußte sich bald wieder paaren, diesmal mit einem höflichen, unbeteiligten Partner. Doch nicht heute. Ihre Schenkel waren wund, und der Riß in ihrer Unterlippe würde sofort wieder zu bluten anfangen. Nicht heute. Morgen vielleicht. Oder übermorgen.
Nach dem Frühstück in ihrem Quartier (sie hatte den Tisch ans Fenster gerückt, doch der Ausblick auf die Hügel von Penheniot hatte diesmal nicht die gewünschte, beruhigende Wirkung), ging sie ins Labor. Sie brauchte jetzt die Arbeit und Formeln, die man, Gott sei Dank, unter seiner Kontrolle halten konnte.
Der Professor stand am Haustelephon und unterhielt sich mit Littlejohn in dessen Quarantänezimmer.
»Natürlich, Gründer. Zwei Katzen. Kleine wilde Biester. Das eine entwischte nach dem Experiment, doch wir haben es wieder eingefangen. Der Veterinär hat sie in seiner Beobachtungsstation. Er versicherte mir, sie seien beide in ausgezeichneter gesundheitlicher Verfassung.«
Es gab eine Pause, in der Manny Littlejohn zu Wort kam. Der Professor, am anderen Ende einer mindestens achthundert Meter langen Leitung, bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand und begrüßte Liza mit einem ungeduldigen Nicken seines Kopfes. Es war in die Richtung des Computers orientiert, wo ein Stapel neuer mathematischer Ansätze auf seine Erledigung wartete.
Dann wendete er sich wieder tapfer dem Telephon zu und brachte seine Werbesprüche an, wenn der Gründer neuen Atem schöpfte.
»Start perfekt, Wiedereintritt perfekt, alles so, wie ich mir das bisher nur erträumen konnte. Bis morgen abend, wenn Sie das Krankenhaus verlassen können, bin ich so weit, daß ich … Tatsächlich bereite ich für heute nachmittag bereits ein Experiment mit größeren Organmassen vor. Ich habe mich bereits erkundigt, wo ich ein Schaf herbekommen kann. Leider sind die Bauernhöfe in der Nachbarschaft wegen Seuchengefahr nicht in der Lage, uns das Gewünschte gegen Barzahlung zu … Wie bitte, Gründer?«
Selbst Liza hatte die beiden Worte gehört, denn der Gründer hatte sehr deutlich gesprochen.
»Es stehlen? Nun, sicher, natürlich – wenn Sie das sagen. Ja, ich weiß, sie weiden entlang unserer Nordgrenze …« Der Professor zappelte mit der Hand, die nicht den Hörer hielt. »Ich würde – ich würde vorschlagen, Sie geben Sergeant Cole die nötige Vollmacht. Oder vielleicht könnte der Projektleiter …«
Wieder bellte der Gründer ein paar deutliche Worte.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Gründer. Ich werde …« Es klickte in der Leitung. Der Professor legte den Hörer auf. »Emmanuel hat so einen klaren, praktischen Verstand«, sagte der Professor in die Stille hinein. »Ich wäre auf so etwas nie gekommen. Nicht in hundert Jahren.«
Ein paar Minuten später sah Liza eine Gruppe von Sicherheitsbeamten am Laborfenster vorbeimarschieren. Sie lachten, während einer von ihnen ein Seil wie ein Lasso schwenkte und ein anderer einen großen Kescher über die Schulter warf, wie man ihn früher zum
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