Die Zeit-Moleküle
muschi, muschi …« Wenn die Menschen Narren aus sich machten, war das ausschließlich ihr Problem. »Ausgezeichnet, ausgezeichnet«, wiederholte der Gründer noch einmal und bewegte sich mit steifen, arthritischen Schritten aus dem Zwinger.
Doch draußen auf der Fore Street wurde er sofort wieder zum großen, denkwürdigen alten Mann, der energisch einherging und auf zivile Weise die vielen Dorfbewohner grüßte, die aus den Fenstern schauten. Er hatte es eilig, ins Labor zu kommen, um einen interessanten, langen Nachmittag zu erleben. Rachel Moser meldete sich pünktlich um zwei Uhr fünfundvierzig zum Dienst. Liza war ihr dankbar, daß sie ein schlichtes, rotes Kleid angezogen hatte. Schließlich gehörte es zu ihren Pflichten, den Professor vor allen Zerstreuungen und äußeren Ablenkungsmanövern abzuschirmen. Sie hatte sich längst mit ihrer abgeschlossenen Welt abgefunden, mit ihren chronomischen Koordinaten, den Formeln für Brennweiten, den Methoden der elektro-chronomischen Schrittmacher. Für sie war Rachel Moser nur ein Körper, den sie wiegen mußte, eine Zellstruktur, die sie auf eine Formel bringen mußte. Wie bei jeder anderen wissenschaftlichen Errungenschaft war auch hier am Anfang ein Risiko dabei. Es war ihre Pflicht, dieses Risiko so klein wie möglich zu halten.
Sie gab Rachel Moser letzte Instruktionen. »Sie sitzen hier, auf diesem Stuhl. Sie brauchen sich nicht ganz still zu verhalten. Die Brennweite der Beschleuniger ist groß genug, daß sie einen gewissen Bewegungsspielraum vertragen können.«
Das Mädchen setzte sich gelassen auf den Stuhl. Einen Moment lang wurde sie für Liza ein Individuum, eine Persönlichkeit, die entweder sehr vertrauensselig oder sehr tapfer war. Liza spürte einen Moment lang, daß sie diese Person nicht als Versuchsobjekt mißbrauchen konnte, daß sie es nicht fertigbrachte, sie in die unergründliche Leere zu werfen. Doch die Worte fehlten ihr, um ihr das zu sagen. Sie wären maßlos gewesen, und Maßlosigkeit war Liza Simmons vollkommen fremd. Deshalb drückte sie Rachel Moser nur die Hand und prüfte dann die Position ihres Stuhls auf der Startbühne.
»Sie kennen die Routine, Rachel. Hier sind Ihre Ohrstöpsel. Stecken Sie sie nicht eher in die Ohren, bis ich es Ihnen sage. Was wir jetzt von Ihnen dringend brauchen, sind Ihre vollkommen subjektiven Reaktionen. Wir wollen alles haben, was Sie vom Augenblick an empfinden, denken, erleben, wenn die Maschinen eingeschaltet werden, bis zu dem Moment, wo Sie von der Bühne wieder heruntersteigen. Nichts ist so unwichtig, nichts ist so klein, daß wir es nicht wissen wollen. Kapiert?«
Das Mädchen blickte zu ihr hoch. »Wir haben den Start und alles andere über ein Jahr lang geprobt«, sagte sie. »Und der stellvertretende Ausbildungsleiter hat uns dafür noch ein paar nützliche Tricks verraten.«
Stimmen und Geräusche klangen am Eingang des Labors auf. Liza legte die Hand über die Augen, um sie vor dem grellen Licht zu schützen, und sah, daß zwei neue Gäste eingetroffen waren: David Silberstein und Dr. Meyer. Der Gründer blieb auf seinem Stuhl am Fenster sitzen, und Professor Krawschensky trippelte nervös von Konsole zu Konsole und wieder zurück. Liza hoffte im stillen, daß er nichts mehr anfassen würde. Die Werte waren alle eingestellt, die Daten überprüft und noch einmal überprüft. Sie wendete sich wieder Rachel zu.
»Ich muß Sie jetzt verlassen. Ich werde die Fernsehkamera so einstellen, daß Ihre Kollegen und Kolleginnen in der Unterkunft Ihren Start mitverfolgen können. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Und denken Sie daran: Sie brauchen keine Angst zu haben. Das Verfahren ist genau erprobt worden.« Genau erprobt? Kaum erprobt. Überhaupt nicht erprobt. »Seien Sie also unbesorgt.«
Und dann war sie selbst überrascht, als sie Rachel Moser zum Abschluß kurz umarmte. Über ihr schlug die Wanduhr die neunte Stunde, neun Fanfarenstöße aus einer kombinierten Autohupe. Die tatsächliche Zeit war drei Minuten vor drei.
»Angst?« sagte Rachel Moser leise, »ich habe keine Angst. Ich vertraue Ihnen, Liza. Der Gründer leidet an Altersparanoia. Der Professor ist ein besessener Neurotiker. Der Projektleiter ist ein Waschlappen. Aber Ihnen vertraue ich, Liza. Sie würden mich hier nicht sitzen lassen, wenn mir etwas passieren könnte.«
Heute stimmt das nicht, Mädchen. Vergangene Woche vielleicht, aber nicht heute. Nicht nach der Nacht mit Roses. Traue niemand, Rachel Moser. Sie werden
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