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Die Zeitfalte

Die Zeitfalte

Titel: Die Zeitfalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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können.«
    »Deine Mutter ist ein ganz anderer Mensch. Außerdem ist sie um etliche Jahre älter als du.«
    »Ich wollte, ich wäre jemand anderer«, schluchzte Meg. »Ich kann mich nicht ausstehen.«
    Calvin streckte die Hand aus und nahm Meg die Brille von der Nase. Dann fischte er ein Taschentuch aus der Hose und wischte Meg die Tränen ab. Diese liebevolle Geste brachte sie völlig aus der Fassung; sie ließ den Kopf auf die Knie sinken und begann unbeherrscht zu heulen.
    Calvin saß still daneben und streichelte nur von Zeit zu Zeit sanft ihre Hand.
    »Entschuldige«, schluchzte sie schließlich. »Entschuldige, bitte. Jetzt gehe ich dir bestimmt auf die Nerven.«
    »Meg«, sagte Calvin, »du bist wirklich ein Dummkopf. Weißt du denn nicht, daß du der netteste Mensch bist, der mir seit langem begegnet ist?«
    Meg hob langsam den Kopf. Mondlicht glänzte auf ihren tränennassen Wangen. Ohne Brille waren ihre Augen unglaublich schön. »Mit Charles Wallace ist der Natur etwas Besonderes gelungen«, flüsterte sie. »Aber bei mir hat es eine biologische Panne gegeben.« Ihre Zahnklammem blitzten auf, wenn sie sprach. Sie erwartete, daß er ihr widersprechen würde. Aber Calvin sagte statt dessen: »Weißt du, daß ich dich noch nie ohne Brille gesehen habe?«
    »Ohne sie bin ich blind wie eine Fledermaus. Ich bin extrem kurzsichtig, wie Vater.«
    »Du hast ja wunderschöne Augen!« sagte Calvin. »Setz rasch wieder die Brille auf! Ich möchte nicht, daß irgendjemand außer mir sie zu Gesicht bekommt.«
    Meg lächelte geschmeichelt. Sie spürte, daß sie rot geworden war und fragte sich, ob er das im Dunkeln bemerkt haben konnte.
    »Nun, ihr beiden! Wie geht‘s?« rief ihnen auf einmal jemand zu. Charles Wallace löste sich aus den Schatten. »Ich habe euch nicht belauscht«, sagte er rasch, »und ich störe auch nur ungern – aber es ist so weit, Leute, es ist so weit!« Seine Stimme zitterte vor Erregung.
    »Was ist los?« fragte Calvin.
    »Wir brechen auf.«
    »Wir brechen auf? Wohin?« Instinktiv griff Meg nach Calvins Hand.
    »Das weiß ich selbst nicht genau«, sagte Charles Wallace. »Aber ich nehme an, es geht darum, Vater zu finden.«
    Plötzlich funkelten in der Dunkelheit zwei riesige Augen auf: in den Brillengläsern von Frau Diedas spiegelte sich der Mond. Sie stand neben Charles Wallace, und Meg fragte sich, wie sie es fertiggebracht hatte, im Bruchteil einer Sekunde dort aufzutauchen, wo bis dahin nichts zu sehen gewesen war als wiegende Schatten.
    Meg hörte hinter sich etwas rascheln, wandte sich ruckartig um und sah Frau Wasdenn über die Mauer klettern.
    »Kinder«, stöhnte sie, »der Wind macht mich noch ganz verrückt. In diesem Aufzug kommt man dabei kaum vom Fleck.« Sie war gekleidet wie in der Nacht zuvor, trug auch wieder die Gummistiefel, hatte sich aber diesmal zusätzlich in eines von Frau Buncombes Bettüchern gehüllt. Als sie von der Mauer hüpfen wollte, verfing sich ein Zipfel des Lakens in den Ästen und glitt ihr von der Schulter. Der Filzhut rutschte ihr über beide Augen, und die rosafarbene Stola blieb in einem anderen Ast hängen.
    »Herrje!« seufzte sie. »Ich fürchte, ich lerne das nie!«
    Frau Diedas watschelte ihr zur Hilfe; ihre zierlichen Füße schienen dabei kaum den Boden zu berühren; die Brillengläser blitzten.
    »›Come t‘èpicciolfallo amaro morso!‹ Italienisch. Dante. ›Wie doch ein kleines Unglück Schmerz und Pein bereitet!‹« sagte sie, schob mit ihrer krallenähnlichen Hand den Hut ihrer Freundin wieder zurecht, löste die Stola aus den Zweigen, klaubte das Bettlaken auf und faltete es zu einem kleinen Päckchen.
    »Tausend Dank, meine Liebe!« rief Frau Wasdenn. »Du bist ja so geschickt!«
    »›Un asno viejo sabe mas que un potro.‹ Spanisch. Perez. ›Ein alter Esel weiß mehr als ein junges Fohlen.‹«
    Frau Wasdenn brauste auf. »Jetzt hör aber auf! Nur weil du ein paar lächerliche Milliarden Jahre jünger bist als ich … « begann sie, aber da schnitt ihr eine strenge, schnarrende Stimme das Wort ab.
    »Es rreicht, Mäddchenn. Fürr Streitt habenn wir jetztt keine Zzeitt!«
    »Frau Dergestalt!« rief Charles Wallace.
    Ein leiser Windhauch ließ die Blätter zittern; die Schattenmuster, die der Mond warf, begannen zu tanzen; in einem silbernen Kreis schimmerte etwas, bewegte sich schwankend; und die Stimme sagte: »Ichh glaube nichtt, daßß ich mich völligg matterialissieren mußß. Ersstens strenngt ess unngeheuerr arm, unnd

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