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Die Zeitfalte

Die Zeitfalte

Titel: Die Zeitfalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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ragte undeutlich hochstehender Mais auf. Vor ihnen lag der Obstgarten, in dem allerdings fast nur Apfelbäume standen. Hinter der steinernen Einfassung begann bereits der Wald.
    Calvin setzte sich auf die Steinmauer. Sein rotblondes Haar glänzte silbern im Mondlicht; das Astgewirr warf ein Schattennetz aus hellen und dunklen Flecken auf seinen Körper. Calvin langte in den Baum, pflückte von einem knorrigen Ast einen Apfel, gab ihn Meg und pflückte sich selbst einen.
    »Erzähl mir von deinem Vater!«
    »Er ist Physiker.«
    »So viel weiß ich auch. Und außerdem, heißt es, ließ er deine Mutter sitzen und ist mit einem Weibsstück abgehauen.«
    Meg fuhr auf, aber Calvin packte sie am Handgelenk und drückte sie sanft, aber bestimmt wieder auf ihren Platz. »Immer mit der Ruhe, Mädchen! Was ich jetzt gesagt habe, hörst du doch nicht zum ersten Mal.«
    »Nein!« rief Meg und versuchte vergeblich, sich aus seinem Griff zu winden. »Laß mich los!«
    »Komm, beruhige dich wieder. Du weißt, daß es nicht wahr ist, und ich weiß es auch. Wer auch nur einen einzigen Blick auf deine Mutter wirft und trotzdem glaubt, daß ein Mann sie einer anderen wegen verlassen würde, beweist nur, wie sehr der Neid die Menschen verdirbt. Habe ich recht?«
    »Wahrscheinlich«, sagte Meg. Ihr Glücksgefühl war verflogen; sie steckte wieder bis an den Hals in Zorn und Haß.
    »Jetzt sei endlich vernünftig, du Dummkopf!« Calvin beutelte sie zärtlich. »Ich möchte doch nur alles ins reine bringen, also Tatsachen und Erfindungen voneinander trennen. – Dein Vater ist Physiker. Das ist eine Tatsache. Richtig?«
    »Ja.«
    »Er ist mehrfacher Doktor?«
    »Ja.«
    »Meist arbeitet er allein, aber eine Zeitlang war er in einem Fachinstitut der Universität Princeton. Richtig?«
    »Ja.«
    »Und dann hat er einen Regierungsauftrag übernommen. Richtig?«
    »Ja.«
    »Mehr weiß ich nicht. Jetzt bist du dran.«
    »Viel mehr weiß auch ich nicht«, räumte Meg ein. »Vielleicht weiß Mutter mehr, aber sie hat mir nichts davon verraten. Vaters Arbeit war ein Spezialauftrag. Das, was man eine Geheimsache nennt.«
    »Top Secret?«
    »Ja.«
    »Und du hast keine Ahnung, worum es dabei geht?«
    Meg schüttelte den Kopf.
    »Und wohin dein Vater reisen mußte, weißt du nicht?«
    »Nein. Am Anfang bekamen wir eine Menge Briefe von ihm. Mutter und Vater schrieben einander jeden Tag. Ich glaube, Mutter schreibt ihm immer noch, heimlich, bei Nacht. Jedenfalls macht sich das Postfräulein gelegentlich über die vielen Briefe lustig.«
    »Sie wird glauben, deine Mutter verfolgt ihn mit Vorwürfen«, sagte Calvin bitter. »Manche Leute sind eben vernagelt und begreifen nicht, daß zwei Menschen einander schlicht lieben können. – Erzähl! Wie ging es weiter?«
    »Gar nicht«, sagte Meg. »Es ging überhaupt nicht weiter. Das ist es ja.«
    »Was war mit den Briefen deines Vaters?«
    »Es kamen keine mehr.«
    »Und du hast nichts mehr von ihm gehört?«
    »Nein«, sagte Meg. »Nichts.« Ihre Stimme zitterte.
    Sie schwiegen. Schließlich nahm Calvin das Gespräch wieder auf. Er bemühte sich, ganz sachlich und unbeteiligt zu wirken.
    »Hältst du es für möglich, daß er tot sein könnte?« fragte er, ohne Meg anzublicken.
    Wieder sprang Meg auf, und wieder zog Calvin sie auf ihren Platz zurück.
    »Nein! Das hätte man uns gesagt. In einem solchen Fall kommt zumindest ein Telegramm. Irgendetwas wird einem dann immerhin verraten.«
    »Und was verrät man euch jetzt?«
    Meg würgte ein Schluchzen hinunter und strengte sich hart an, weiterzusprechen. »Ach, Calvin! Was hat Mutter nicht alles versucht, um etwas herauszufinden! Sie war sogar in Washington. Aber dort sagte man ihr auch nicht mehr, als daß Vater einen äußerst geheimen und äußerst gefährlichen Auftrag übernommen hat. Und daß wir alle auf ihn sehr stolz sein können. Und daß er eben eine Zeitlang mit uns keine … keine Verbindung aufnehmen kann. Und daß man uns so bald wie möglich Nachricht geben wird.«
    »Meg, sei jetzt nicht gleich wieder zornig, aber … wäre es denkbar, daß diese Leute selbst nichts wissen?«
    Eine einsame Träne glitt langsam über Megs Wange. »Gerade das befürchte ich ja!«
    »Warum weinst du nicht?« sagte Calvin leise. »Du machst dir schreckliche Sorgen um deinen Vater, hm? Weine doch ruhig. Das wird dir gut tun.«
    Megs Stimme zitterte unter den Tränen. »Ich heule ohnehin schon zu oft. Ich möchte lieber wie meine Mutter sein und mich beherrschen

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