Die Zeitfalte
Dann fragte er sie plötzlich: »Was ist ein Megaparsec?«
»Einer der Rufnamen, die Vater mir gegeben hat«, sagte Meg. »Außerdem entspricht ein Megaparsec 3 , 26 Millionen Lichtjahren.«
»Und was bedeutet E = mc 2 ?«
»Das ist die Einsteinsche Gleichung.«
»Wofür steht E?«
»Für Energie.«
»Und m?«
»Für Masse.«
»Und c 2 ?«
»Das Quadrat der Lichtgeschwindigkeit, ausgedrückt in Zentimetern pro Sekunde. – Energie ist Masse mal dem Quadrat der Beschleunigung.««
»Welche Länder grenzen an Peru?«
»Keine Ahnung.«
»Wer schrieb Shakespeares »Romeo und Julia«?«
»Ach, Cal, in Literatur bin ich ganz schlecht!«
Calvin stöhnte und wandte sich an Frau Murry: »Jetzt verstehe ich, was sie meinen. Ich möchte wirklich nicht in der Haut von Megs Lehrern stecken.«
»Sie ist ein wenig einseitig begabt«, räumte Frau Murry ein. »Aber daran sind ihr Vater und ich schuld. Zum Glück spielt sie zwischendurch noch immer gern mit ihrem Puppenhaus.«
»Mutter!« rief Meg vorwurfsvoll.
»Oh, tut mir leid, mein Kind!« Frau Murry schlug sich mit der Hand gegen den Mund. »Aber Calvin weiß schon, wie es gemeint war.«
Calvin breitete plötzlich spontan die Arme aus, als wolle er mit dieser Geste Meg, ihre Mutter und das ganze Haus umfassen. »Wie ist das nur möglich? Ist es nicht wunderbar? Ich fühle mich wie neugeboren! Ich bin nicht mehr allein! Können Sie sich vorstellen, was das für mich bedeutet?«
»Du und allein?« protestierte Meg. »Aber du bist doch keine Niete! Du bist ein ausgezeichneter Sportler. Du gehörst zur Basketballmannschaft. Du bist ein guter Schüler. Alle mögen dich.«
»Aus lauter unwichtigen Gründen«, sagte Calvin. »Aber ich hatte bis heute niemanden, niemanden auf der ganzen Welt, mit dem ich hätte reden können! Klar, ich funktioniere wie eine Maschine unter Maschinen; ich kann mich anpassen. Aber dazu muß ich mich immer selbst verleugnen.«
Meg hatte das Besteck aus der Schublade genommen. Gedankenverloren drehte sie die Gabeln in den Händen hin und her. »Jetzt kenne ich mich überhaupt nicht mehr aus.«
»Ich auch nicht!« rief Calvin vergnügt. »Aber ich ahne immerhin, daß uns etwas Besonderes bevorsteht.«
Meg war froh, wenn auch ein wenig überrascht, daß die Zwillinge es aufregend fanden, Calvin beim Abendessen dabeizuhaben. Sie kannten seine sämtlichen Spitzenplätze und waren von seinen sportlichen Leistungen weitaus mehr beeindruckt als Meg.
Calvin aß fünf Teller Eintopf und drei Portionen Pudding und knabberte ein Dutzend Kekse dazu. Anschließend bestand Charles Wallace darauf, daß Calvin ihn zu Bett brachte und ihm noch ein wenig vorlas. Die Zwillinge durften noch eine halbe Stunde fernsehen. Meg half Mutter beim Abwasch und setzte sich dann an den Tisch, um endlich ihre Hausaufgaben zu machen. Aber sie konnte sich nicht recht konzentrieren.
»Mutter, bist du aufgeregt?« fragte sie plötzlich.
Frau Murry ließ die Fachzeitschrift sinken, in der sie gelesen hatte. Erst überlegte sie. Dann sagte sie: »Ja.«
»Warum?«
Wieder mußte sie überlegen. Sie betrachtete ihre Hände. Sie waren groß und kräftig und doch schön. Gedankenversunken drehte sie mit den Fingern der linken Hand den goldenen Ring, den sie an der Rechten trug.
»Weißt du«, sagte Mutter schließlich, »ich bin immer noch ein verliebtes junges Ding. Auch wenn ihr Kinder das vielleicht nicht so recht begreifen könnt. Ich bin eben schrecklich verknallt in euren Vater. Und er fehlt mir. Ich vermisse ihn furchtbar.«
»Meinst du denn, daß … das alles mit Vater zu tun hat?«
»Irgendwie: ja!«
»Aber wie denn?«
»Wenn ich das wüßte! Trotzdem scheint es mir die einzige Erklärung zu sein.«
»Und du glaubst, daß es immer für alles eine Erklärung geben muß?«
»Ja, das glaube ich. Auch wenn wir Menschen mit unserem beschränkten Verstand und unseren bescheidenen Möglichkeiten oft nicht in der Lage sind, sie zu begreifen. Aber, siehst du, Meg, nur, weil wir etwas nicht verstehen, bedeutet das doch noch lange nicht, daß es dafür überhaupt keine Erklärung gibt.«
»Mir ist es lieber, wenn ich alles begreife!« sagte Meg.
»So geht es uns allen. Aber das ist nicht immer möglich.«
»Charles Wallace begreift mehr als wir, was?«
»Ja.«
»Warum?«
»Wahrscheinlich, weil er … ja, weil er anders ist, als wir es sind, Meg.«
»Wie – anders?«
»Das kann ich selbst kaum erklären. Aber du spürst doch selbst, daß er anders
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