Die Zeitfalte
immer noch die Hände vor dem Gesicht, nickte erneut.
Charles Wallace trat ganz nahe auf sie zu. »Ich möchte Ihnen gern einen Kuß geben«, sagte er ernst. »Darf ich?«
Frau Wasdenn ließ die Hände sinken, zog Charles Wallace an sich und umarmte ihn.
Er legte ihr die Arme um den Hals, preßte seine Wange gegen ihre – und dann küßte er sie.
Auch Meg hätte Frau Wasdenn am liebsten geküßt; aber nichts, was sie oder Calvin nun sagen oder tun würde, konnte dem gleichkommen, was Charles Wallace mit seinem Kuß ausgedrückt hatte. Also gab sie sich damit zufrieden, Frau Wasdenn einfach anzublicken.
Deren unmöglicher Aufzug war ihr mittlerweile vertraut; und gerade Frau Wasdenns verrückte Kleidung machte sie ja so vertrauenswürdig. Jetzt erst wurde Meg wirklich bewußt, und sie erschrak bei der Erkenntnis, daß es gar nicht Frau Wasdenn selbst war, die sie da vor sich sah, sondern daß die eigentliche Frau Wasdenn – mehr doch: daß ihre wahre Existenz – jenseits menschlichen Begreifens lag. Was Meg sah, war das Ergebnis einer spielerischen Täuschung. Frau Wasdenn hatte bestimmt ihren Spaß daran; man konnte über dieses Spiel lachen und darin Trost finden – aber es gewährte doch nicht mehr als einen winzigen Einblick in die Fülle der Möglichkeiten dessen, was Frau Wasdenn sein, was sie werden konnte.
»Eigentlich wollte ich es euch gar nicht verraten«, gestand Frau Wasdenn. »Ihr hättet es, genau genommen, nie erfahren sollen. Aber … Ach, ich war ja so gern ein Stern!«
»Ddu bistt ebenn nnoch ssehr jungg«, stellte Frau Dergestalts Stimme mit leichtem Vorwurf fest.
Die Goldene Mitte blickte glücklich auf die Kristallkugel, aus der ihr der Sternenhimmel entgegenleuchtete. Sie lächelte, nickte und kicherte leise. Dann aber, sah Meg, senkten sich langsam ihre Lider, und plötzlich sank ihr der Kopf auf die Brust, und sie begann leise zu schnarchen.
»Die Arme!« sagte Frau Wasdenn. »Wir haben sie zu sehr angestrengt! Für sie war das jetzt harte Arbeit.«
»Frau Wasdenn!« rief Meg. »Bitte sagen Sie uns doch, wie es nun weitergehen soll! Bleiben wir hier? Reisen wir weiter? Was unternehmen wir als nächstes? Wo ist mein Vater? Wann kommen wir zu ihm?«
»Eines nach dem andern, mein Schatz!« sagte Frau Wasdenn.
Frau Diedas unterbrach sie. »›As paiedes tem ouvidos!‹« mahnte sie. »Portugiesisch. Ein Sprichwort. ›Die Wände haben Ohren.‹«
»Ja, gehen wir nach draußen!« stimmte Frau Wasdenn zu. »Kommt, wir wollen das Glückliche Medium schlafen lassen.«
Aber als sie sich eben zum Gehen wenden wollten, hob die Goldene Mitte den Kopf und lachte sie strahlend an.
»Ihr werdet doch nicht gehen, ohne mir auf Wiedersehen zu sagen?« fragte sie.
»Wir wollten Sie bloß nicht wecken, meine Beste!« Frau Wasdenn klopfte ihr liebevoll auf die Schulter. »Wir haben Sie schrecklich in Anspruch genommen und können uns denken, daß Sie das sehr ermüdet haben muß.«
»Dabei hätte ich euch so gern etwas Nektar und Ambrosia angeboten!« rief die Goldene Mitte enttäuscht. »Trinkt doch wenigstens eine Tasse Tee mit mir!«
Jetzt erst merkte Meg, daß ihr der Magen knurrte. Wie lange war es eigentlich inzwischen her, daß sie den Teller Eintopf gegessen hatte?
Frau Wasdenn lehnte die Einladung leider ab: »Vielen Dank, meine Liebe; aber ich fürchte, wir müssen wirklich gehen.«
»Sie hat natürlich keinen Hunger!« flüsterte Charles Wallace Meg zu. »Zumindest erhalten sich diese Wesen nicht wie wir vom Essen. Für sie ist das alles nur ein Spiel. Für uns aber … Ich werde die drei Damen bei nächster Gelegenheit wohl doch daran erinnern müssen, daß wir früher oder später etwas zu futtern brauchen.«
Die Goldene Mitte lächelte und nickte verständnisvoll. »Aber wenn ich euch armen Kindern schon so schreckliche Dinge zeigen mußte, will ich euch wenigstens zum Abschied etwas Schönes bieten. Charles, Meg, wollt ihr vielleicht eure Mutter sehen?«
»Könnten Sie uns auch unseren Vater zeigen?« bat Meg stürmisch.
»Nnein!« befahl Frau Dergestalts Stimme barsch. »Wwir ssind bbereits auff ddem Wegg zzu ihm, Megg. Ssei nichtt ungedulldigg.«
»Ihre Mutter darf sie aber doch sehen?« versuchte die Goldene Mitte Frau Dergestalt zu überreden.
»Ja, warum eigentlich nicht?« warf Frau Wasdenn ein. »Es dauert nicht lang und kann nicht schaden.«
»Und Calvin!« rief Meg. »Darf auch er seine Mutter sehen?«
Calvin boxte Meg leicht mit dem Ellbogen in die Seite; ob
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