Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zeitfalte

Die Zeitfalte

Titel: Die Zeitfalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
Vom Netzwerk:
mochte.
    »Ich darf euch nicht verraten, wo er ist. Ihr müßt einfach den gegebenen Zeitpunkt abwarten.«
    Charles Wallace blickte Frau Wasdenn offen an. »Sie haben Angst um uns!« sagte er.
    »Ein wenig.«
    »Aber Sie hatten keine Angst bei dem, was Sie taten, als Sie noch ein Stern waren. Warum haben Sie dann jetzt Angst um uns?«
    »Oh, wer sagt dir denn, daß ich mich damals nicht doch gefürchtet habe?« meinte Frau Wasdenn leise. Dann musterte sie die Kinder der Reihe nach. »Ihr werdet Hilfe brauchen«, stellte sie fest. »Aber ich darf jedem von euch nicht mehr mitgeben als einen kleinen Talisman. – Du, Calvin, besitzt die Gabe, dich mit jedem verständigen zu können, der dir begegnet. Ich schenke dir diese Begabung, um manches verstärkt, mit auf den Weg. – Und dir, Meg, gebe ich deine Fehler.«
    »Meine Fehler?« rief Meg erschrocken.
    »Deine Fehler.«
    »Aber ich versuche doch immer, sie loszuwerden!«
    »Ja«, sagte Frau Wasdenn. »Trotzdem. Denn ich bin sicher, daß sie dir auf Camazotz gute Dienste leisten werden. – Dir, Charles Wallace, kann ich nur eines geben: die ganze Unschuld und unverbrauchte Kraft eines Kindes.«
    Von irgendwoher funkelten plötzlich die Brillengläser von Frau Diedas auf.
    »Jetzt bin ich an der Reihe«, sagte ihre Stimme. »Calvin. Ein Hinweis. Ein Hinweis für dich. Hör gut zu:
    *
    »›… Allein da du, ein allzu zarter Geist,
    ihr schnödes, fleischliches Geheiß zu tun,
    dich ihrem Machtgebot entzogst, verschloß sie
    mit ihrer stärkern Diener Hilfe dich,
    in ihrer höchsten unbezähmbar‘n Wut,
    in einer Fichte Spalt; ein Dutzend Jahre
    hielt diese Kluft dich peinlich eingeklemmt … ‹
    Englisch. Shakespeare. ›Der Sturm‹.«
    *
    »Wo sind Sie, Frau Diedas?« fragte Charles Wallace. »Und wo ist Frau Dergestalt?«
    »Wir können uns euch nicht mehr zeigen!« Wie ein Windhauch wehte ihre Stimme zu ihnen herüber. »Und jetzt zu dir, Charles Wallace. ›Allwissend bin ich nicht, doch viel ist mir bewußt.‹ Deutsch. Goethe. Das ist für dich, Charles. Bedenke, daß du nicht alles weißt.« Und zuletzt wandte sich die Stimme von Frau Diedas an Meg. »Dir, du kleine, blinde Fledermaus, überlasse ich meine Brille. Aber benutze sie nur, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Bewahre sie für den Augenblick höchster Gefahr.« Einmal noch funkelten die Brillengläser kurz auf, dann waren sie verschwunden, und die Stimme erstarb.
    Die Brille lag in Megs Hand. Behutsam verstaute sie sie in der Brusttasche ihrer Jacke. Das Gefühl, sie darin geborgen zu wissen, half ihr ein wenig, die Angst zu überwinden.
    Indessen war auch der Schimmer sichtbar geworden, mit dem Frau Dergestalt sich zu erkennen gab.
    »Ichh«, sagte sie, »hhabe euchh ddreien nnur einenn Auftragg zzu erteilenn. – Gehtt inn ddie Stadtt. Gehtt ggemeinssam. Trenntt euchh nichtt, unnd laßtt euchh nichtt trennenn. Bleibbt tapferr. Bleibbt starrk.«
    Ein Aufflackern – und der Schimmer war verschwunden.
    Meg schauderte.
    Frau Wasdenn mußte sie beobachtet haben, denn sie faßte Meg beruhigend an der Schulter. Dann wandte sie sich an Calvin: »Paß gut auf Meg auf!«
    »Das besorge schon ich!« rief Charles Wallace ungehalten.
    Frau Wasdenn blickte ihn bloß an. Ihre brüchige Stimme wurde schwächer, zugleich aber auch weicher und voller. »Dich, Charles Wallace«, sagte sie, »erwartet hier die größte Gefahr.«
    »Warum?«
    »Weil du bist, was du bist. Weil du so bist und nicht anders, bist du am ehesten verwundbar. Du mußt deshalb immer bei Meg und Calvin bleiben. Du darfst sie nicht auf eigene Faust verlassen. Hüte dich vor Stolz und Hochmut, Charles; sie könnten dich verführen und betrügen.«
    Diese Worte, Warnung und Drohung zugleich, ließen Meg erneut erschaudern. Selbst Charles Wallace schien beeindruckt. Er kuschelte sich ganz eng an Frau Wasdenn, so wie er es manchmal bei Mutter machte, und flüsterte ihr zu: »Ich glaube, jetzt weiß ich endlich, was Sie gemeint haben, als Sie von der Angst sprachen.«
    »Nur ein Tor kennt keine Angst«, sagte Frau Wasdenn, wie zur Bestätigung. »Und jetzt geht.«
    Und wo sie eben noch gestanden hatte, war nur noch Luft und Gras und ein kleiner Felsblock.
    »Ja!« rief Meg ungeduldig. »Kommt endlich! Gehen wir!«
    Sie merkte nicht, daß ihre Stimme heftig zitterte. Sie faßte Charles Wallace und Calvin an der Hand, und gemeinsam liefen sie den Abhang hinunter.
    Unter ihnen lag die Stadt. Die Straßen waren nach einem strengen geometrischen

Weitere Kostenlose Bücher