Die Zeitfalte
nirgendwo auch nur eine Spur von Bäumen oder Buschwerk. Hier gab es keine Anzeichen von Vegetation, nichts als den flachen Boden unter ihren Füßen.
Schließlich tauchte vor ihnen undeutlich eine Erhebung auf; es schien ein Steinhügel zu sein. Beim Näherkommen konnte Meg einen Eingang ausmachen, der in eine tiefe, dunkle Höhle führte.
»Müssen wir da hinein?« fragte sie ängstlich.
»Sei unbesorgt«, sagte Frau Wasdenn. »Die Goldene Mitte, das Glückliche Medium, wirkt am besten im Inneren. Sie wird euch bestimmt gefallen, Kinder. Sie ist sehr lustig. Wenn ich jemals den Eindruck hätte, daß sie nicht mehr glücklich ist, wäre ich selbst sehr niedergeschlagen. Aber so lange sie lachen kann, wird am Ende bestimmt alles gut.«
»Ffrau Wwasdenn!« ließ sich Frau Dergestalts warnende Stimme vernehmen. »Ddeine Jugennd gibtt dirr nnoch llange nnicht ddas Rrechtt, allesss ausszuplauderrnn!«
Frau Wasdenn war gekränkt, fügte sich aber.
»Wie alt sind Sie denn eigentlich?« wollte Calvin wissen.
»Augenblick!« murmelte sie und begann rasch mit den Fingern zu rechnen. Dann nickte sie erfreut und sagte: »Genau zwei Milliarden dreihundertneunundsiebzig Millionen einhundertzweiundfünfzgitausend vierhundertsiebenundneunzig Jahre, acht Monate und drei Tage – gerechnet natürlich nach eurem Kalender, der allerdings nicht sehr genau ist; aber das wißt ihr ja selbst.« Sie rückte ein wenig näher an Meg und Calvin heran und wisperte ihnen ins Ohr: »Ich fühle mich wirklich sehr geehrt, für diese Mission ausgewählt worden zu sein. Zugegeben, ich habe das meinem Talent zu verdanken, mich besonders gut in Worten ausdrücken und als Gestalt materialisieren zu können. Man sollte sich allerdings auf seine Begabung nichts einbilden. Es kommt nur darauf an, wie man sie nützt. Und ich mache noch viel zu oft etwas falsch. Deshalb haben sich Frau Diedas und ich ja auch so diebisch gefreut, Frau Dergestalt bei einem Fehler zu ertappen, als sie mit euch auf einem zweidimensionalen Planeten zwischenlanden wollte. Darüber haben wir gelacht, nicht über euch. Der Schnitzer hat sie ja selbst erheitert. Sie ist eigentlich schrecklich nett zu uns jungen Dingern.«
Weil Meg so aufmerksam zugehört hatte, war ihr beinahe entgangen, daß sie sich mittlerweile bereits in der Höhle befanden. Fast unmerklich waren sie von dem Grau draußen in das Grau drinnen geraten.
In der Ferne leuchtete ein Licht. Sie gingen darauf zu, und als sie näherkamen, erkannte Meg, daß es von einer Feuerstelle kam.
»Hier drinnen kann es ziemlich kalt werden«, sagte Frau Wasdenn. »Und so haben wir unsere Freundin gebeten, für euch tüchtig einzuheizen.«
Vor dem Feuer hob sich ein Schatten ab, der Schatten einer Frau. Sie trug einen Turban aus blaßroter Seide und war in ein langes, wallendes purpurrotes Gewand gehüllt. In den Händen hielt sie eine Kristallkugel, die sie fasziniert betrachtete. Die Frau schien nicht bemerkt zu haben, daß die Kinder und die drei Damen gekommen waren, denn sie starrte weiterhin in die Kristallkugel; und dann begann sie über das, was sie darin zu sehen bekam, herzhaft zu lachen. Sie lachte und lachte ohne Unterlaß.
Frau Dergestalts Stimme ertönte hell und klar und hallte von den Wänden der Höhle wider:
»WWIRR SSIND SCHONN DAA!«
Die Frau blickte von der Kugel auf, und als sie die Besucher sah, erhob sie sich und machte einen tiefen Knicks. Frau Wasdenn und Frau Diedas deuteten ihrerseits einen Knicks an, und sogar der Dergestalt-Schimmer schien sich leicht zu verneigen.
»Das ist die Goldene Mitte, das Glückliche Medium«, sagte Frau Wasdenn. »Meine liebe Mitte, darf ich dir die Kinder vorstellen? Charles Wallace Murry.«
Charles Wallace verbeugte sich.
»Margaret Murry.«
Da sowohl Frau Wasdenn als auch Frau Diedas geknickst hatten, hielt Meg es für angebracht, dem Beispiel zu folgen, wenn ihr Knicks auch etwas unbeholfen ausfiel.
»Und Calvin O‘Keefe.«
Calvin ruckte mit dem Kopf.
»Wir möchten ihnen ihren Heimatplaneten zeigen«, sagte Frau Wasdenn.
Das bezaubernde Lächeln der Goldenen Mitte erstarb. »Oh!« sagte sie. »Warum sollen sie so unerfreuliche Dinge zu sehen bekommen, wenn es doch so viel Schöneres zu betrachten gibt?«
Wieder ließ Frau Dergestalt ihre schallende Stimme hören: »Wwenn ddie Vverantworttlichenn nnicht bbald etwass ggegen ddie unerffreulichenn Ddinge unnternehmenn, wwird ess zzuletztt auchh ddie schönenn nnicht mehrr gebenn.«
Die Goldene Mitte
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