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Die Zeitfalte

Die Zeitfalte

Titel: Die Zeitfalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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»Meg! Ist alles in Ordnung?«
    Die Zunge lag wie ein Stein in ihrem Mund; aber Meg gelang es trotzdem, ein paar Worte zu krächzen: »Ich kann mich nicht rühren.«
    »Du mußt es aber versuchen!« beschwor sie Calvin. Das klang ganz so, als sei er ihr böse. »Bewege die Zehen. Bewege die Finger.«
    »Es geht nicht. – Wo ist Charles Wallace?« Die steinschwere Zunge machte sie lallen.
    Vielleicht hatten die beiden sie nicht verstanden, denn sie gaben keine Antwort.
    »Wir waren auch vorübergehend bewußtlos«, sagte Calvin statt dessen. »Du kommst schon wieder hoch, Meg. Nur keine Panik!«
    Er hockte neben ihr, beugte sich über sie, und obwohl er noch immer ungehalten, geradezu böse wirkte, verrieten seine ängstlichen Augen, daß er sich um sie Sorgen machte. Meg wußte jetzt auch, daß sie ihre Brille nicht unterwegs verloren hatte, denn sie konnte ihn ganz deutlich sehen: die Sommersprossen, die borstigen schwarzen Wimpern, die himmelblauen Augen.
    Auf der anderen Seite kniete Vater. Er trug die Brille, die Frau Diedas ihnen mitgegeben hatte. Die dicken Linsen verbargen seine Augen. Er nahm Megs Hand und begann sie sanft zu reiben.
    »Spürst du meine Finger?«
    Das klang so ruhig, als sei es keineswegs ungewöhnlich, daß sie völlig gelähmt war. Diese ruhige, feste Stimme gab ihr wieder Zuversicht. Dann sah sie, daß auf Vaters Stirn Schweißtropfen glänzten; aber der leise Windhauch, der ihre Wangen streifte, fühlte sich eher kühl an. Erst waren Vaters Worte wie gefroren gewesen … Jetzt der milde Wind … War es hier eisig oder warm … ?
    »Spürst du meine Finger?« fragte Vater erneut.
    Ja, jetzt empfand sie den Druck gegen ihre Handfläche. Aber sie konnte noch nicht nicken.
    »Wo ist Charles Wallace?«
    Diesmal klangen ihre Worte weniger verzerrt. In die Zunge, in die Lippen kehrte Empfindung zurück, aber sie fühlte sich kalt und schwammig an – wie damals, als der Zahnarzt Meg eine Injektion zur lokalen Betäubung gegeben hatte …
    Mit einem Mal wurde Meg bewußt, daß ihr ganzer Körper so kalt und steif lag. Sie war nicht bloß unterkühlt, sie war von Kopf bis Fuß gefroren! Deshalb fühlte sie sich wie gelähmt. Deshalb hatte die Stimme ihres Vaters so seltsam splittrig geklungen.
    »Ich – bin – eingefroren«, sagte sie matt.
    Auf Camazotz hatte es diese Kälte nicht gegeben; sie drang tiefer in den Körper als daheim auf der Erde der schneidende Wind an einem beißendkalten Wintertag.
    ES hatte Meg nicht in seinen Griff bekommen, aber diese unbegreifliche eisige Umklammerung war beinahe ebenso schlimm.
    Vater hatte sie also doch nicht gerettet.
    Allmählich gelang es Meg, sich ein wenig umzublicken. Hier war alles rostbraun und grau. Am Rand der Wiese, auf der sie lag, standen Bäume. Ihre Blätter waren so braun wie das Gras. Die kleinen Gewächse zwischen den Halmen waren wahrscheinlich Blumen – kümmerliche Blumen, fahl und grau. Die Luft hingegen stand ganz im Gegensatz zu. den eintönigen Farben, die Meg umgaben, und zu der lähmenden Kälte, die sie empfand. Die Luft war lau und erfüllt von einem zarten, frühlingshaften Duft; fast unmerklich streifte sie Megs Wangen.
    Meg betrachtete Vater und Calvin. Sie waren bloß in Hemdsärmeln und schienen sich durchaus wohl zu fühlen. Nur sie, sie allein, eingepackt in ihre Kleider, war so steifgefroren, daß sie nicht einmal zittern konnte.
    »Warum ist mir so kalt?« fragte sie. »Wo ist Charles Wallace?« Sie bekam keine Antwort. »Vater, wo sind wir?«
    Herr Murry blickte sie an. »Ich weiß es nicht, Meg«, sagte er, ruhig und sachlich. »Ich kann nicht besonders gut tessern. Ich dürfte über das Ziel hinausgeraten sein. Ich weiß nicht, wo wir sind, aber jedenfalls nicht auf Camazotz. Ich glaube, du bist so kalt, weil wir durch das Schwarze Ding hindurch mußten. Ich befürchtete schon, es würde dich von mir fortreißen.«
    »Sind wir hier auf einem dunklen Planeten?« Langsam taute ihre Zunge auf; die Worte klangen immer deutlicher.
    »Das glaube ich nicht«, sagte Herr Murry. »Aber ich weiß von allem so wenig, daß ich keineswegs sicher bin.«
    »Dann hättest du gar nicht erst tessern sollen.«
    Noch nie zuvor hatte sie ihrem Vater Vorwürfe gemacht.
    Calvin schaute sie an und schüttelte den Kopf. »Es war das einzig mögliche. Zumindest sind wir auf diese Weise von Camazotz fortgekommen.«
    »Aber warum sind wir ohne Charles Wallace aufgebrochen? Warum haben wir ihn einfach zurückgelassen?« Auch das hörte sich

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