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Die Zeitfalte

Die Zeitfalte

Titel: Die Zeitfalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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um sich selbst krümmen … Ich könnte daher auch nicht sagen, ob ich in dieser Säule jahrhundertelang oder bloß für Minuten eingeschlossen war.« Er schien wieder nachzudenken. Dann sagte er: »Ich glaube, jetzt fühle ich Megs Puls.«
    Meg spürte seine Finger nicht an ihrem Handgelenk. Sie spürte nicht einmal ihre Hand. Ihr ganzer Körper war nach wie vor versteinert, aber ihr Verstand begann sich allmählich zu regen. Verzweifelt versuchte sie, sich bemerkbar zu machen, ein Lebenszeichen zu geben, aber es gelang ihr nicht.
    Wieder die Stimmen. Erst Calvin: »Haben Sie Ihr Projekt ganz allein verfolgt, Herr Murry?«
    Dann Vater: »Aber nein. Wir waren zu sechst; und ich darf wohl annehmen, daß eine ganze Menge anderer Leute, von denen wir nichts wußten, ebenfalls daran gearbeitet haben. Jedenfalls sind wir bestimmt nicht der einzige Staat, der sich auf diesem Gebiet betätigt. Die Idee an sich ist nicht einmal neu. Aber wir wollten natürlich verhindern, daß man im Ausland erfährt, wie weit wir es gebracht haben, die Theorie in die Praxis umzusetzen.«
    »Kamen Sie allein nach Camazotz, oder waren auch andere dabei?«
    »Ich war allein. Weißt du, Calvin, man kann so etwas nicht vorweg an Ratten oder Affen oder Hunden ausprobieren. Wir wußten ja nicht einmal, ob das Ganze überhaupt wie geplant funktionieren würde; es hätte ebensogut eine Selbstauflösung des Körpers zur Folge haben können. Wer mit Zeit und Raum experimentiert, läßt sich auf ein gefährliches Spiel ein.«
    »Aber warum haben dann ausgerechnet Sie das Wagnis als erster unternommen?«
    »Ich war gar nicht der erste. Wir haben gelost. Ich war die Nummer zwei.«
    »Und Ihr Vorgänger? Was ist aus ihm geworden?«
    »Das – das wissen wir nicht. Er … Schau doch! Haben sich nicht ihre Augenlider bewegt?« Stille. Dann: »Nein. Es war nur ein Schatten.«
    »Es war kein Schatten!« wollte Meg ihnen zurufen. »Ich habe wirklich geblinzelt! Ganz bestimmt! Und ich kann euch hören. So unternehmt doch etwas!« Aber wieder schwiegen die beiden. Wahrscheinlich behielten sie sie im Auge und warteten auf ein weiteres Lebenszeichen.
    Als Vater erneut zu sprechen begann, klang seine Stimme noch etwas wärmer und voller als zuvor, beinahe schon vertraut:
    »Wir ließen das Los entscheiden, und ich wurde zweiter. Hank tesserte los, so viel ist sicher. Wir sahen ihn vor unseren Augen verschwinden. Erst war er da, dann war er fort. Wir hatten vereinbart, ein Jahr lang auf seine Rückkehr oder auf eine Nachricht von ihm zu warten. Das Jahr verging. Nichts geschah.«
    Calvin, heiser vor Erregung: »Du lieber Himmel! Ist Ihnen da nicht ganz flau geworden?«
    Vater: »Doch. Es ist beängstigend, aber auch faszinierend, wenn man plötzlich entdeckt, daß Energie und Materie tatsächlich ein und dasselbe sind; daß ein Körper nur scheinbar vorhanden ist, hingegen aber die Zeit als stoffliche Substanz begriffen werden muß. Wir können das wohl erkennen, aber wir können es mit unserem lächerlichen Verstand nicht mehr begreifen. Ich bin sicher, daß du eines Tages imstande sein wirst, viel mehr zu erfassen als ich. Und Charles Wallace sogar mehr als du … «
    »Sagen Sie mir doch, wie es weiterging, nachdem der erste Mann nicht mehr zurückkam!«
    Meg hörte ihren Vater seufzen. »Dann kam eben ich an die Reihe. Ich tesserte. Und nun bin ich hier. Ich bin um vieles klüger und um vieles demütiger geworden. Ich weiß jetzt, daß ich nicht bloß zwei Jahre lang unterwegs war … Eines zumindest kann ich hoffen, nachdem ihr gekommen seid: daß ich in unsere Zeit zurückkehren werde. Um den anderen das einzige mitzuteilen, was es mitzuteilen gibt. Daß wir nichts wissen.«
    Calvin: »Wie meinen Sie das?«
    Vater: »Wie ich es gesagt habe. Wir führen uns auf wie Kinder, die mit Dynamit spielen. In unserem blinden Eifer stürzen wir uns in dieses Abenteuer, ohne zuvor … «
    Mit äußerster Anstrengung gab Meg einen Laut von sich. Es war nur ein leises Stöhnen, aber sie hatte sich immerhin bemerkbar gemacht.
    Herr Murry unterbrach sich. »Still! Hast du das auch gehört?«
    Meg brachte ein seltsames, krächzendes Geräusch zustande. Sie konnte sogar die Augen öffnen. Die Lider lasteten wie Bleigewichte, aber es gelang ihr doch, sie zu bewegen.
    Vater und Calvin beugten sich über sie. Charles Wallace war nicht zu sehen. Wo war er?
    Sie lag auf freiem Feld, auf stoppeligem, rostbraunem Gras.
    Meg blinzelte, langsam und mit Mühe.
    »Meg!« rief Vater.

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