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Die Zeitfalte

Die Zeitfalte

Titel: Die Zeitfalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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durcheinander; aber dann erkannte sie blitzartig die Wahrheit. »Nein!« schrie sie triumphierend. »Nein! Gleich sein und frei sein ist nicht dasselbe!«
    »Bravo, Meg!« rief Vater ihr zu.
    Charles Wallace sprach unbeirrt weiter, als wäre sie ihm nicht ins Wort gefallen. »Auf Camazotz sind alle gleich.«
    Das war keine Begründung! Damit hatte er ihre Behauptung nicht widerlegt! Und das gab ihr die Kraft, an ihrer Überzeugung festzuhalten:
    »Gleich sein und frei sein ist nicht dasselbe!«
    Für einen Augenblick war sie der Macht entronnen, die ES über sie gewinnen wollte.
    Aber wie?
    Ihr eigenes, kleines, schwaches Hirn konnte doch unmöglich dieser großen, körperlosen, pulsierenden Masse auf dem Podest gewachsen sein! Sie schauderte, als sie ES betrachtete.
    In ihrer Schule wurde im Lehrmittelraum ein menschliches Gehirn in Formaldehyd aufbewahrt. Das Präparat wurde häufig für den Unterricht in den Oberklassen herangezogen. Meg hatte sich oft davor gefürchtet, selbst vor dem Glaszylinder sitzen zu müssen; sie war sicher, diesen Anblick nicht ertragen zu können. Aber jetzt, dachte sie, jetzt, wenn sie ein Messer hätte, würde sie ohne Zögern hinstürzen und ES in Stücke fetzen. Rücksichtslos, ohne Erbarmen würde sie in diese Gehirnwindungen stechen …
    Sie hörte die Stimme. Diesmal sprach sie direkt zu Meg, geradewegs in ihr Bewußtsein, nicht durch den Mund von Charles Wallaces:
    »Bist du dir darüber im klaren, daß du auch deinen kleinen Bruder tötest, wenn du mich zerstörst?«
    Hieß das, daß jeder auf Camazotz, dessen Geist ES unter seine Kontrolle gebracht hatte, mit ihm zugleich untergehen mußte, wenn es vernichtet wurde? Charles Wallace – und der Mann mit den roten Augen – und der Mann, der die Buchstabiermaschine für die zweiten Klassen bediente – und alle Kinder, die mit dem Ball oder der Springschnur spielten – und die Mutter – und die Männer und Frauen, die in den seelenlosen Gebäuden aus und ein gingen … Hing ihrer aller Leben denn ausschließlich davon ab, daß ES am Leben blieb? Gab es für sie alle keine Rettung mehr?
    Ihr Zorn, ihre Halsstarrigkeit drohten sie zu verlassen. Ihr Schutzschild schmolz dahin. Schon fühlte sie, wie das mächtige Gehirn wieder nach ihr griff. Vor ihren Augen begannen die roten Nebel zu tanzen … Nur schwach drang Vaters Stimme an ihr Ohr, obwohl sie sah, daß er sie aus Leibeskräften anbrüllte:
    »Das periodische System der Elemente, Meg! Sag es auf!«
    Eine Erinnerung flackerte auf: die langen Winterabende; im offenen Kamin brannte das Feuer; Meg und ihr Vater saßen davor; und er half ihr beim Lernen …
    »Wasserstoff … Helium … «, begann sie gehorsam. Immer schön der Reihe nach. Eines nach dem anderen, geordnet nach dem Atomgewicht der Elemente. Was kam als nächstes? Ja, sie wußte es noch: »Lithium. Beryllium. Bor. Kohlenstoff. Stickstoff. Sauerstoff. Fluor … «
    Sie schleuderte ihrem Vater die Worte entgegen; beachtete ES nicht länger.
    »… Neon. Natrium. Magnesium. Aluminium. Silizium. Phosphor … «
    »Viel zu rhythmisch!« schrie ihr Vater entgegen. »Nenne mir lieber die Quadratwurzel von fünf!«
    Wie schwer es ihr fiel, sich auch nur einen Augenblick lang zu konzentrieren! Reiß dich zusammen, Meg! Und wenn du dir auch das Gehirn zermartern mußt – immer noch besser, als wenn ES dein Gehirn zermartert …
    »Die Quadratwurzel aus fünf«, brüllte sie, »ist: Zwei Komma Zwei Drei Sechs!« Sie hatte es geschafft! »Denn Zwei Komma Zwei Drei Sechs multipliziert mit Zwei Komma Zwei Drei Sechs gibt fünf!«
    »Und die Quadratwurzel von sieben?«
    »Die Quadratwurzel von … die Quadrat – wurzel – von – sieben ist … ist … «
    Sie gab auf. Sie war nicht länger fähig, durchzuhalten. ES faßte nach ihr; sie konnte sich nicht mehr konzentrieren; nicht einmal auf Mathematik; und bald, bald würde ES auch sie in sich aufgehen lassen, würde sie zu einem ES geworden sein.
    »Tessern, Herr Murry!« hörte sie wie aus weiter Ferne Calvins Stimme aus den roten Nebeln. »Sie müssen tessern!«
    Sie fühlte, wie ihr Vater sie am Handgelenk packte. Ein furchtbarer Ruck ging durch ihren Körper; so schmerzhaft, als brächen ihr alle Knochen im Leib – und dann das dunkle Nichts der Tesserung.
    War es schon ein seltsames und furchterregendes Erlebnis gewesen, mit Frau Wasdenn, Frau Diedas und Frau Dergestalt zu tessern, so ließ sich das doch in keiner Weise mit dem vergleichen, was Vater ihr jetzt

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