Die Zeitung - Ein Nachruf
welchen Begriff von „Öffentlichkeit“ man sich zu Eigen macht. Unter den vermutlich nicht besonders theorieversessenen Durchschnittsnutzern scheint es inzwischen eine Mehrheit zu geben, die den „traditionellen“ Medien eher nicht zutraut, eine solche Rolle tatsächlich zu spielen. Unter diesen wiederum gibt es eine Mehrheit, die das beklagt, und eine ziemlich rasch wachsende Minderheit, die mit den von Pürer angesprochenen Möglichkeiten, „sich (inter-)aktiv in Denk- und Diskussionsprozesse einzuschalten“, das Ende der „vierten Gewalt“ als Mittel der Manipulation gekommen sieht. Ihr Credo lautet: „Wir brauchen euch nicht mehr.“
Modell Luhman
Offensichtlich stimmt etwas nicht mehr in dem Dreiecksverhältnis zwischen Bürger, Politik, Medien. Die Auswirkungen dieser dysfunktionalen Beziehung bekommen sowohl Politik als auch Medien in Form von Misstrauen zu spüren. Was die Rolle der Medien als Publikative neben Legislative, Exekutive und Judikative im Gewaltenteilungsmodell betrifft, geht diese Dysfunktionalität von den Medien aus: Die Strukturkrise, mit der die klassischen Medien seit Beginn der Digitalisierung zu kämpfen haben – und die durch die Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2008 schärfer zutage getreten ist –, hat zu einer so massiven Schwächung des klassischen Journalismus geführt, dass sie die Aufgaben, die mit der (Selbst-)Zuschreibung der Rolle als „vierte Gewalt“ verbunden sind, selbst dann nicht mehr erfüllen können, wenn sie es gerne möchten.
Aus historischer Perspektive ist die Selbstverständlichkeit, mit der gegenwärtig nach öffentlicher Unterstützung für die Medien, vor allem für die unter Druck gekommen Zeitungen als Stütze der Demokratie gerufen wurde, ziemlich gewagt, gerade im deutschsprachigen Raum. Dort kann, wie der österreichische Publizistikprofessor Hans Heinz Fabris in seinem Beitrag
Der verspätete Aufstieg des Journalismus in der Zweiten Republik
7 unter Berufung auf seinen Dortmunder Kollegen Gerd Kopper schreibt, „für die Berufsgruppe der Journalisten […] gesagt werden, dass ihnen im Gesamtzusammenhang der Modernisierung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts kaum jemals eine tragende Bedeutung zugekommen ist“. Kopper führt diese auf eine „allgemeine Verspätung in der gesellschaftlichen Entwicklung“ im Vergleich vor allem zu den westeuropäischen Ländern zurück. Aus Frankreich, England und den Vereinigten Staaten stammt die Idee, die Medien seien die „vierte Gewalt“. Zwar habe es auch „im Westen“ Brüche und Risse in der journalistischen Berufsauffassung gegeben, den Journalisten sei aber – „sogar in einem so fernen Nachfolgestaat westlicher Modernisierung wie Japan“ – immer „ein fester Platz in den politischen und sozialen Entwicklungspositionen zuerkannt“ worden.
Für die Entwicklung in den deutschsprachigen Ländern hingen sei „eine besondere Variante des historischen Idealismus“ charakteristisch, in welcher „das bürgerliche Bildungsideal des beginnenden 19. Jahrhunderts“ mit dem „Künstler- und Begabtenmythos“ verschmolzen wurde, was die Professionalisierung des Berufsfeldes Journalismus deutlich verzögert habe.
Dazu kam, dass den deutschsprachigen Ländern die demokratischen Erfahrungen der Engländer und Amerikaner und die revolutionären Erfahrungen der Franzosen fehlten. In Deutschland wurde der „Nachholprozess“, von dem Fabris schreibt, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges rascher und gründlicher in Gang gesetzt als in Österreich. Das bedeutete, dass das Obrigkeitsdenken, das die Brüche 1918/19, 1933/34, 1938, 1945 und 1955 überlebt hatte, noch weit in die Zweite Republik hinein weiterlebte und sich in den sozialpartnerschaftlich-großkoalitionären Strukturen verfestigte. Und es bedeutete eine für den Außenblick wohl überraschende persönliche Kontinuität sowohl aus der Zeit des Ständestaates als auch aus der Zeit des NS-Regimes hinein in die „Stunde null“, die in mehrfacher Hinsicht nicht unbedingt eine solche war. Menschen, die sowohl dem Dollfuß/Schuschnigg-Regime gedient als sich auch durch die NS-Herrschaft geschlängelt hatten, waren nun doch nicht die idealen Gewährsleute für die Ausrufung einer „vierten Gewalt“ zur Kontrolle der Mächtigen und Herrschenden.
Das medienpolitisch bestimmende US-amerikanische Besatzungsregime, das dafür sorgte, dass während der ersten 15 Jahre der Nachkriegszeit die Presselandschaft von Parteizeitungen beherrscht wurde,
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