Die Zeitung - Ein Nachruf
so: In der Übergangsphase zwischen der Gutenberg- und der Turing-Galaxis, in der wir uns nach wie vor befinden, herrscht Unsicherheit in Bezug auf die angemessene Definitionsweise von „Öffentlichkeit“. Es ist noch nicht absehbar, welche Konsequenzen die neuen Formen von Öffentlichkeit, die dabei sind, sich zu entwickeln, auf das persönliche Leben und auf die Aushandlung der öffentlichen Angelegenheiten haben werden. Und es bleibt unsicher, ob sich Medien mit hoher journalistischer Qualität in Zukunft auf herkömmlichen Wegen werden finanzieren lassen, was zunächst einmal diese Medien als ernsthaftes Gegenüber einer Politik schwächt, die selbst mit vielfältigen Formen des Kontrollverlustes konfrontiert ist.
Die zweite Formulierung folgt der medienökonomisch-medienhistorischen Linie der Ereignisse und geht ungefähr so: Die meisten Medienhäuser haben es versäumt, die fundamentalen Konsequenzen zu ziehen, die das Ende des Gutenberg-Zeitalters und die fortschreitende Digitalisierung für sie haben werden; und sie sind gerade dabei, die letzten Reste ihres Geschäftsmodells zu zerstören, in dessen Zentrum nach wie vor die gedruckte Tageszeitung steht. Als letzten Ausweg versuchen sie, über die Selbstbehauptung einer Rolle als „vierte Gewalt“ im Rahmen des klassischen Gewaltenteilungsmodells so etwas wie einen Anspruch auf öffentliche Subventionierung zu formulieren. Gleichzeitig zerstören sie sich eben dieses Argument, weil sie durch ihre konventionellen, den Managementprinzipien des skalenorientierten Industriekapitalismus folgenden Versuche, ihr Geschäftsmodell zu retten, ihre Kapazitäten zur Wahrnehmung einer Rolle als „vierte Gewalt“ zerstören.
Kein Zweifel: Die Zeitung stirbt gerade. Man muss mit dem Ausstellen des Totenscheins nicht warten, bis tatsächlich die letzte Zelle abgestorben, das letzte Exemplar irgendwo auf dem Globus gedruckt wird. Die gedruckte Zeitung als der dreidimensionale Raum, in dem sich die gesellschaftliche Selbstverständigung auf bevorzugte Weise abspielt, ist klinisch tot.
Zeit also, einen Nachruf zu verfassen, als „Obituary“ im Übrigen eine der edelsten Textsorten der englischsprachigen Zeitungswelt.
Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg (um 1400–1468), schuf die technischen Voraussetzungen für die Entwicklung der Printmedien. Von 1452 bis 1454 stellte er unter Einsatz mobiler Metalllettern und der ebenfalls von ihm erfundenen Handpresse seine erste Bibelausgabe her.
ERINNERUNGEN AN DIE ZUKUNFT
Schwer zu sagen, wo man ansetzen müsste, um die frühesten Ansätze dessen zu finden, was man rückblickend das „Prinzip Zeitung“ nennen könnte. Denn Nachrichten wurden zwischen den Menschen ausgetauscht, lange bevor sie schreiben konnten. Diese Nachrichten wurden an Straßenkreuzungen weitergegeben, sodass die Reisenden sie in die entferntesten Gegenden tragen konnten, man erzählte sich Neuigkeiten an Lagerfeuern und auf Marktplätzen, man schickte Läufer von den Schlachtfeldern zurück in die Polis. Heute noch am berühmtesten ist jener, der, nachdem er die etwas mehr als 42 Kilometer von Marathon nach Athen gelaufen war, um über den Ausgang der Schlacht gegen die persischen Truppen des Dareios zu berichten, mit den Worten „Nenikekamen“ tot zusammenbrach: „Wir haben gesiegt.“ 1
Auch die „Marktschreier“ befinden sich noch in unserem Wortschatz, die in Vor-Schrift-Zeiten durch die Dörfer gingen, um Geburten, Todesfälle, Heiraten und Scheidungen bekannt zu machen. Ungewöhnliche Ereignisse haben sich immer schon verbreitet „wie ein Lauffeuer“. Mit der Entwicklung der Schrift wurden die Nachrichten verlässlicher. Und in fortgeschrittenen Zivilisationen wie der römischen oder der chinesischen wurden sie auch formeller. In Rom existierte ein besonders ausgeklügeltes System zur Verbreitung schriftlicher Nachrichten, die „Acta“: täglich handgeschriebene „Newsletter“, die von der Regierung von 59 v. Chr. bis zumindest 222 n. Chr. auf dem Forum Romanum ausgehängt wurden.
Das chinesische Pendant zu den „Acta“ hieß „Tipao“. Der offizielle chinesische Newsletter entstand etwas früher (202 v. Chr.) in der Han-Dynastie, wo er bis 221 n. Chr. unter Staatsbeamten kursierte, während der Tang-Dynastie (618–906) wurde er eine Zeit lang auch gedruckt. In China kannte man seit dem 8. Jahrhundert ein Holzdruckverfahren, bei dem Abzüge von eingefärbten Holzstöcken abgenommen wurden, indem ein Papier mit einer
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