Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zeitung - Ein Nachruf

Die Zeitung - Ein Nachruf

Titel: Die Zeitung - Ein Nachruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Fleischhacker
Vom Netzwerk:
Gesellschaftsformen aufzuzeigen. Eine Schlüsselrolle spielten stattdessen die Untergrundmedien: Pamphlete, Einblattdrucke und Skandalchroniken über die sexuellen Eskapaden der Herrschenden dienten zur Mobilisierung der Massen, sie waren gewissermaßen die gedruckte Fortsetzung einer auf Gerücht und Tratsch ausgerichteten, einer mündlichen Öffentlichkeit. Auf ihre Weise trugen sie ebenso zur Säkularisierung des Monarchischen bei wie die Schriften der Aufklärer.
    Die Erklärung der Bürger- und Menschenrechte am 26. August 1789, in der auch die Pressefreiheit als Menschenrecht festgehalten wird, führte zu einer in der Weltgeschichte bis dahin nie dagewesenen Explosion von Presseprodukten. Während der ersten drei Revolutionsjahre entstanden jedes Jahr mehr als 300 Zeitungen und Zeitschriften, bis zum Ende des Revolutionsjahrzehntes 1799 wurden neben 2.000 Zeitungen und Zeitschriften an die 40.000 Flugschriften veröffentlicht. Allein Louis-Marie Prudhomme, der 1789
Les Revolutions de Paris
herausgab, soll schon im Vorfeld der Revolution 1.500 Pamphlete verfasst haben. Seitenanzahl und Auflagenhöhen schnellten in die Höhe (die
Gazette universelle
druckte täglich 11.000, das
Journal de Soir
10.000 Exemplare), statt der bisher dominierenden Außenpolitik standen nun natürlich die heimischen Ereignisse im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Zwischen Nachrichten und Meinungen wurde nicht mehr wirklich getrennt.
    Das deutete an, dass sich mit den Ereignissen von 1789 auch das Selbstverständnis der Journalisten geändert hatte: Sie waren nun nicht mehr Chronisten der Ereignisse, sondern politische Erzieher und Volksführer geworden. Die radikaleren Journalisten sahen sich als Richter oder als investigative Kämpfer gegen die Konterrevolutionen, Selbstbilder, die auch 200 Jahre später im postrevolutionären, spätindustriellen, postdemokratischen 21. Jahrhundert noch durchaus im Umlauf sind. Wie in den Vereinigten Staaten war nun in Frankreich der Journalismus zum politischen Karrieresprungbrett geworden. Das berühmteste Beispiel für einen Journalisten, der zur Schlüsselfigur der Revolution geworden war, ist wohl Jean-Paul Marat mit seinem Blatt
L’Ami du peuple
.

    Eine Ausgabe der Revolutionszeitung
L’Ami du peuple
mit dem Blut ihres ermordeten Herausgebers Jean-Paul Marat (1743–1793).
    Wie in Amerika wirkten Printmedien parteibildend, sie wurden zu Kristallisationspunkten unterschiedlicher Clubs mit unterschiedlichen Perspektiven, unter denen dann der Gesetzgebungsprozess und andere öffentliche Entscheidungen wie die Hinrichtung des Königs oder die Kriegserklärung diskutiert wurden. Zunächst profitierte von der neuen Pressefreiheit auch die monarchistische Presse, die von 1790 an versuchte, Protestkampagnen zu lancieren. Die Blüte der Pressefreiheit und des Medienmarktes währte allerdings nicht lange: 1792 wurde eine neue Zensur eingeführt, um zunächst einmal die monarchistische Presse zu unterdrücken. Und die Jakobiner taten das, was die absoluten Herrscher zuvor auch gemacht hatten: Sie subventionierten ihre eigenen Medien. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Journalisten und Verleger unter die Guillotine kamen, weil konterrevolutionäres Schrifttum zum Kapitalverbrechen geworden war.
    Zu diesen Ereignissen passt eine weitere frühe Definition der „öffentlichen Meinung“, sie stammt vom jungen Friedrich Schlegel und findet sich in dessen Lessing-Aufsatz, erschienen 1797 in der Zeitschrift
Lyceum
: „Die Macht einer öffentlichen und alten Meinung zeigt ihren Einfluss auf solche Männer, welche selbständig urteilen könnten; der Strom zieht auch sie mit fort, ohne dass sie es nur gewahr werden. Oder wenn sie sich widersetzen, so geraten sie dann in das andere Extrem, alles unbedingt zu verwerfen.“ 23 Jochen Hörisch spitzt Schlegels Analyse noch weiter auf die Gegenwart zu: Herrschende Meinung, schreibt er, sei „dazu da, beeinflusst, gestürzt und neu gebildet zu werden“. Fest stehe jedenfalls, „dass die ‚herrschende Meinung‘ nicht länger feststeht, wenn ihr die öffentliche Meinung in die Quere kommt“.
    Das Hin und Her zwischen Modernisierung und Restauration, das ab den frühen 1790er Jahren einsetzte, betraf nicht nur Frankreich, sondern ganz Europa. Nachdem es zunächst fast überall auf dem Kontinent zu einem Aufblühen des publizistischen Diskurses gekommen war, setzte ab Mitte des Jahrzehnts so gut wie überall die Gegenbewegung ein. Man wird sich nicht darüber

Weitere Kostenlose Bücher