Die Zeitwanderer
sich, wie lange er wohl in der Gasse würde stehen müssen. Der Gedanke ging ihm noch immer durch den Kopf, als er erneut eine Brise verspürte. Sogleich sah er, wie Cosimo aus den Schatten herbeieilte.
»Sie ist nicht da.«
»Wo?«
»Stane Way.«
»Vielleicht ist sie nach Hause gegangen.«
»Nein, sie sollte genau dort sein, wo du sie zurückgelassen hast.«
Kit zuckte mit den Schultern. »Wenn du es sagst.«
Langsam schüttelte Cosimo seinen Kopf. »Du hast wirklich keine Ahnung, was hier vor sich geht, nicht wahr?«
»Wenn man es so ausdrücken will«, brummte Kit. »Nicht wirklich, nein.«
»Wenn deine Freundin in eine andere Existenzebene gereist ist, dann stellt das ein Problem dar. Und zwar ein sehr großes, das mit höchster Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit angegangen werden muss. Und nun komm mit, mein Junge.« Cosimo wandte sich in Richtung Meeresufer. »Wir werden jetzt einen alten Freund von mir besuchen. Heute Abend hält er einen Vortrag, und danach habe ich für uns ein Dinner arrangiert. Wir werden ihm die Situation erklären. Zufällig ist er ein Kollege und Wissenschaftler. Vielleicht ist er in der Lage zu helfen.«
Sie traten aus der Gasse heraus und spazierten am Hafen entlang. Am Kai war es nun ruhiger als bei Kits letztem Besuch; die Gegend wirkte jetzt nahezu menschenleer. Der große Schoner lag immer noch vor Anker, aber die Hafenarbeiter und Fischer waren fort; ihre Boote hatten sie für die Nacht gesichert. Am östlichen Himmel erschienen gerade die ersten paar Sterne, und die Sonne ging wie eine geschmolzene Kugel hinter einer der beiden Landzungen unter, die nur noch als dunkelblauer Schatten zu sehen war. »Abendrot, gut Wetterbot«, sinnierte Kit. Das Meer war ruhig und bekam allmählich einen silbernen Glanz.
Wenig später bogen sie in eine von Fahrrinnen zerfurchte Straße ein. Sie mühten sich einen steilen Abhang empor - die Bucht lag nun hinter ihnen - und stiegen durch eine Ansammlung niedriger Häuser den schützenden Hügel hoch. Kit schnaufte und schwitzte, als sie den Rand der Hügelkuppe erreichten. Nun durfte er anhalten und wieder Atem schöpfen. Die Bucht breitete sich unter ihnen in einem leuchtenden Bogen aus, und die untergehende Sonne verlieh ihr einen bronzefarbenen Ton.
»Wohin gehen wir?«, fragte Kit, der spürte, wie die Luft den Schweiß auf seiner Haut abkühlte.
»Siehst du diesen Stein da?« Cosimo zeigte auf einen dünnen, aufrecht stehenden Stein neben der Straße, der ein paar Hundert Yards entfernt war. »Er markiert einen Ley, der besonders nützlich ist, wie ich herausgefunden habe.« Kits Urgroßvater warf einen flüchtigen Blick auf den sich verdunkelnden Himmel. »Wir sollten sehen, das wir weiterkommen.«
In einem schnellen Tempo marschierten sie auf der Straße weiter. Der alte Mann schien mit jedem Schritt vitaler zu werden. Kit bemerkte bald, dass er ein ums andere Mal hasten musste, um mit Cosimo Schritt halten zu können. Als sie den aufrecht stehenden Stein erreichten, rief Kit: »He, können wir eine Sekunde anhalten?«
Cosimo blieb stehen. »Junge Leute haben keine Ausdauer.«
»Wir haben andere Qualitäten.« Kit beugte sich vor, legte seine Hände auf die Knie und rang nach Luft.
»Tut mir leid, mein Junge, aber wir müssen voranmachen«, erklärte sein Vorfahre. »Wir können wirklich nicht mehr länger herumtrödeln.«
Erneut flitzte er fort. Nun verließ er die Straße und bahnte sich querfeldein seinen Weg. Mit großen Schritten eilte er durch das lange Gras auf eine breite Anhöhe zu, die erste einer ganzen Reihe von Erhebungen, die im düsteren Zwielicht in einem satten Smaragdgrün leuchteten. Kit, der joggen musste, um Schritt halten zu können, folgte ihm.
»Die Leys sind meistens recht sensibel, was die Zeit anbelangt, weißt du«, erklärte Cosimo.
Diese Worte waren kaum ausgesprochen, als wie aus dem Nichts ein grauenhaftes Knurren erklang, bei dem einem das Blut in den Adern gerann. Das Geräusch hallte über die Landschaft, die rasch immer dunkler wurde, und verdrängte alle leiseren Töne in der Natur.
»Was war das?«, fragte Kit besorgt.
»Wir sind leichtsinnig gewesen«, antwortete Cosimo. »Jetzt haben sie uns gefunden.«
»Wer?«, verlangte Kit zu wissen. Hektisch schaute er umher und versuchte, den Urheber des nervenzerreißenden Knurrens zu entdecken. »Was war das?«
»Hör mir gut zu«, beschwor ihn Cosimo, in dessen Stimme Verzweiflung mitschwang. »Tu genau das, was ich dir nun sage - und
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