Die Zeitwanderer
von ranziger Milch und verfaulenden Äpfeln entdeckte sie unverkennbar den herben Gestank von Jauche- und Abfallgruben, bei dem sich ihr automatisch die Nase kräuselte. Solche Ausdünstungen überraschten sie nicht im Geringsten, denn in den Abflussgräben der mehr schlecht als recht gepflasterten Straßen stand das dreckige Abwasser; und überall, wohin ihr Blick zufällig fiel, gab es kleine Berge von Müll, der planlos auf Fußwegen und Straßen aufgehäuft worden war.
Engelbert führte seinen Wagen direkt auf den großen, zentralen Platz der Stadt, ein Areal, das von vier gewaltigen Gebäuden begrenzt und beherrscht wurde: eine Militärkaserne, ein Rathaus, ein Zunfthaus und eine große, schwerfällig wirkende gotische Kathedrale. Zwischen die größeren Gebäude zwängten sich zahlreiche andere Bauten. Sie bildeten ein wildes Konglomerat, was Größe und Baustil anbelangte: Mauern aus großen und dünnen Ziegeln erhoben sich direkt neben kleinen, gedrungenen Fachwerkhauswänden, die wiederum unmittelbar an reich verzierte Putzfassaden mit schönen Malereien und Reliefs grenzten. All das formte eine Art von wilder architektonischer Unordnung, die dem extravaganten Platz einen sonderbaren, leicht verrückten Charakter verlieh.
Auf dem ausgedehnten offenen Platz befand sich eine große Zahl verschiedenartiger Passanten - Menschen und auch andere Wesen. Ein Markt schien in vollem Gange zu sein: Händler und Kunden feilschten um die verschiedenen Waren, die vor ziemlich unsolide errichteten Marktständen angeboten wurden; Hausierer belästigten die Besucher und schrien laut, um Aufmerksamkeit zu erregen; Hunde bellten zerlumpten, schnell wegflitzenden Kindern hinterher; Gaukler jonglierten, Tänzer hüpften umher, und Stelzenläufer stolzierten durch die herumschlendernden Menschenmassen.
Für Wilhelmina war das alles atemberaubend. Und als Etzel verkündete: »Hier ist der Ort, wo ich meine Bäckerei haben werde!«, spürte sie ein unverfälschtes aufgeregtes Kribbeln.
»Warum nicht?«, meinte sie.
»Ja!« Er strahlte sie mit seinem freundlichen, pausbäckigen Gesicht an. »Warum nicht?«
Etzel fuhr den Wagen zu einer Ecke des Platzes, wo er einen Steintrog und eine Pferdestange fand. Er hielt an und kletterte herunter, band die Mulis an der Stange fest und ließ sie saufen. »Wir sind angekommen!«, rief er glücklich aus. »Unser neues Leben beginnt.«
Er bezog Mina auf so ungezwungene, natürliche Art und Weise mit ein, dass sie sich sofort einbezogen fühlte. Außerdem hatte sie wohl kaum eine andere Wahl.
Die Fremdartigkeit, ja die völlige Unmöglichkeit ihrer misslichen Lage war für Wilhelmina keineswegs verschwunden. Doch zugleich war sie von einem Gefühl der Akzeptanz des Hier und Jetzt durchdrungen, ohne dass sie es bewusst wahrnahm. Sie musste sich im Geiste immer wieder selber kneifen, um sich daran zu erinnern, dass das, was sie gerade erlebte, in keiner Weise normal war. Aber so bizarr ihre Situation auch sein mochte - mehr und mehr entdeckte sie, dass ihr Aufenthalt in einer Anderswelt auch etwas seltsam Verlockendes hatte. Die eigenartige Kavalkade von Geschehnissen übte einen ganz eigenen verführerischen Einfluss aus. Das altertümliche Prag gewann sie für sich.
Mit der gleichen Verwunderung starrte Engelbert die Stadt an. Zu guter Letzt straffte er sich und wandte sich Mina zu. »Ich möchte dich etwas fragen«, sagte er; seine Stimme klang unerwartet feierlich.
»Fahr nur fort«, erwiderte sie vorsichtig.
»Würdest du für mich auf Gertrude und Brunhild Acht geben?«
Mina starrte ihn verwundert an.
Er zeigte auf die Mulis.
»Oh! Aber natürlich.«
»Ich werde nicht weit weggehen«, versicherte er und drehte sich um.
»Keine Sorge. Ich warte hier.«
Doch er war bereits gegangen und verschwand rasch in den Strudeln des Menschengewimmels. Mina saß im Wagen und ließ weiterhin die optischen und akustischen Eindrücke auf sich wirken. Sie versuchte, den Ort, an dem sie gelandet war, irgendwie einzuordnen. Prag, dachte sie, im dreißigsten Jahr von Kaiser Rudolf II. - hat Etzel das nicht gesagt? Was wusste sie über das siebzehnte Jahrhundert? Nicht viel. Eigentlich nichts. Lebte nicht Shakespeare in diesem Jahrhundert? Oder die Königin Elizabeth? Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern.
Wenn sie jemals in ihrem Leben den Gegebenheiten im Böhmen des siebzehnten Jahrhunderts einen flüchtigen Gedanken gewidmet hätte - und das war mit allergrößter Gewissheit nicht der Fall
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