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Die Zeitwanderer

Die Zeitwanderer

Titel: Die Zeitwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Lawhead
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erblickten sie Hodyně: ein unordentlich aussehendes Bauerndorf.
    »Wir werden nachschauen, ob es hier ein Wirtshaus gibt, ja?«
    »In Ordnung«, stimmte ihm Wilhelmina skeptisch zu. »Aber ich sollte dich vorwarnen: Ich habe kein Geld bei mir.«
    »Kein Grund zur Sorge«, erwiderte Etzel. »In einem Ort wie diesem wird eine Übernachtung nicht viel kosten. Außerdem habe ich ein wenig Silber.« Er lächelte beruhigend. »So Gott will, wird es bis Prag reichen.«

ACHTES KAPITEL

    P rag im Jahre 1606 war eine Stadt wie aus einem Märchen. Sie wurde von gewaltigen Mauern umgeben, mit hohen Türmen an jeder Ecke, und es gab riesige Tore aus Holz und Eisen. Entlang der krummen Straßen standen unzählige kleine Häuser, deren Dächer aus roten Tonziegeln beinahe den Boden berührten. Hoch oben thronte eine befestigte Burg mit Mauertürmen und einer Zugbrücke. Fahnen in Grün und Gelb wehten von den Zinnen, und von himmelhoch aufragenden Kirchturmspitzen wachten vergoldete Engel über die Stadt. Im Zentrum von Prag erhob sich auf einem Hügel ein grandioser Palast, dessen funkelnd-weiße Fassade im Sonnenlicht leuchtete. Für Wilhelmina sah alles aus wie etwas, das sich möglicherweise die Gebrüder Grimm ausgedacht hatten - als Kulisse für ein Märchen über einen verwöhnten Prinzen und ein selbstloses armes Mädchen. Als Kind hatte Mina ein solches Buch wie einen Schatz gehütet und war bei der Lektüre stets völlig hingerissen gewesen, wenn das subtile Entsetzen jener altertümlichen Geschichten sie befiel.
    »Es ist wie ein Traum«, flüsterte sie. Der Anblick des imposanten Ziels ihrer Reise, das sich ihnen plötzlich in seiner ganzen Pracht enthüllte, nahm ihr schier den Atem.
    Ohne jegliche Vorwarnung waren sie auf die Stadt mit den vielen Türmen gestoßen. Die hügelige ländliche Gegend hatte nur wenige Hinweise darauf gegeben, was sich direkt hinter der nächsten Anhöhe verbarg. Kurz zuvor gab es nur ein paar Gebäude mehr entlang der Straße - die Zahl der Bauernhöfe stieg ein wenig, zudem sah man ein oder zwei winzige Siedlungen. Und dann, als sie oben auf der Anhöhe angelangt waren, kamen urplötzlich die majestätischen Stadtmauern, die imposante braune, steinerne Burg und die im Wind flatternden Fahnen in Sicht. Entlang des südöstlichen Viertels der Stadt zog sich ein breiter Fluss; in der Senke dort waren sehr viele Wohnhäuser errichtet worden, die allerdings einfachen Bretterbuden ähnelten.
    Engelbert fand das nicht gut, da er sich sagte, dass dieses Gebiet bei einem Hochwasser rasch überflutet würde. »Eigentlich sollten sie es besser wissen«, schnaubte er. Allerdings äußerte er sich anerkennend über die mächtigen steinernen Befestigungswälle, von denen die Stadt umgeben wurde, und über die stabilen, eisengepanzerten Stadttore. Er erklärte, dass es sich um sehr gute Arbeiten handelte. »Starke Mauern sind nämlich wichtig«, fügte er hinzu.
    Mittlerweile hatte sich das Wetter geändert, und es war kalt geworden. Auf den Gräsern und Bäumen lag eine glänzende Frostschicht. Als Mina und Etzel durch ländliche Gebiete gefahren waren, hatten sie die Straße zumeist für sich allein gehabt. Jetzt aber, während sie sich den Toren näherten, nahm der Verkehr stark zu. Engelbert verließ seinen Sitz, als sie sich dem langsam voranrückenden Treck anschlossen, und führte von nun an die Maulesel mit der Hand. Zu dieser Parade unterschiedlicher Gefährte gehörten Ochsenkarren, Pferdefuhrwerke und nicht wenige Handwagen: mobile Geschäfte der verschiedensten Art, die alle von ihren Eigentümern gezogen wurden - von Kesselflickern, Schustern, Webern, Tischlern und anderen Handwerkern. Es gab auch zahlreiche Leute, die ohne ein Fahrzeug reisten, und sogar ein oder zwei Ziegenkarren konnte man sehen. Die meisten, die nur zu Fuß unterwegs waren, trugen Bündel auf dem Rücken: Stöcke, Stroh, Seile und Ballen aus Gras, das offensichtlich als Tierfutter verkauft werden sollte.
    Sie passierten weit geöffnete Tore und rollten weiter ins Herz der Stadt. Wilhelmina nahm die Eindrücke in sich auf - nicht nur die optischen, sondern auch die akustischen: das Schnattern von Gänsen, das Bellen von Hunden und - von irgendwo aus der Ferne - das wehleidige Blöken von Schafen. Und dann waren da noch die Gerüche! Ganz Prag, soweit sie es feststellen konnte, stank nach Käse und unerklärlicherweise nach Äpfeln. Weshalb das so war, vermochte sie nicht zu sagen, doch zwischen den stechenden Gerüchen

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