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Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Titel: Die Zerbrechlichkeit des Gluecks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Schulman
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Sofas im Wohnbereich ein, bis ihre dankbaren Mütter sie ins Bettchen trugen. Es war trotz allem anstrengend, mit anderen zusammen zu sein, allen fiel es schwer, ob sie nun gesellige Naturen waren oder nicht. Und es war eine Erleichterung, sich zurückziehen zu können, nachdem das Gelage offiziell beendet war. Für alle, außer für Coco, die umso aufgedrehter wirkte, je erschöpfter sie wurde.
    Mittlerweile war es fünf Uhr morgens, und Coco schlief immer noch nicht.
    »Als ich klein war, gab es keinen Trickfilmkanal rund um die Uhr«, meinte Liz, aber das war Coco piepegal. Jetzt gab es einen.
    »Komm, wir schalten ein Weilchen ab«, stöhnte Liz leise. Dabei drehte sie sich zu hastig um, und nun schwappte ihr Hirn im Schädel von einer Seite zur anderen, wie Wasser in einem sinkenden Ruderboot mitten in rauer, aufgewühlter See.
    »Was machen wir jetzt, Mom?«, wollte Coco wissen.
    Schlafen, dachte Liz. Wir könnten ja schlafen. »Coco, Süße, wir sollten jetzt die Äuglein zumachen«, sagte sie.
    »Ich bin aber nicht müde«, entgegnete die und sah auch nicht danach aus. Ihre schwarzen Augen glänzten. Ihre Haut hatte den köstlichen karamellbraunen Ton eines Buttertoffeebonbons. Sie war einfach so ein schönes Kind. Ihre leibliche Mutter musste umwerfend ausgesehen haben. Liz wünschte, sie könnte ihr eine Postkarte schicken, gleich hier und jetzt, mit Cocos Foto drauf. Es würde sie trösten, hoffte Liz, die verzweifelte Frau, die die neugeborene Coco in einem zerschlissenen Nachthemdchen, noch mit der Nabelschnur, gegen die Kälte in Zeitungen gewickelt, vor der Tür des Waisenhauses abgelegt hatte.
    »Wie spät ist es?« Liz’ Frage war rein rhetorisch, denn sie spähte dabei auf ihre Armbanduhr. »Vielleicht Zeit für den Sonnenaufgang. Coco Louise Mei Ping Bergamot, hast du schon mal die Sonne aufgehen sehen?«
    Coco schüttelte den Kopf, nein, hatte sie noch nie.
    »Komm, wir müssen auf Zehenspitzen schleichen, pst, pst, leise.« Liz stützte sich auf einen Ellbogen und schwang die Beine über die Bettkante. Beim Stehen vollführte der Boden eine Schaukelbewegung, und ihr wurde ein wenig schwindelig. Es war, als stünde sie auf einem dieser Balancebretter.
    »Pst, Coco, leise«, flüsterte Liz.
    »Ich hab nichts gesagt.« Coco lief zu ihrer Mutter und ergriff ihre Hand.
    »Ganz, ganz leise, Baby.«
    Sie schlichen über den mit Teppich ausgelegten, dunklen Gang bis ins Wohnzimmer. Straßenlaternen erhellten den Park unter ihnen. Liz setzte sich in die Fensternische, und Coco kletterte ihr auf den Schoß.
    Der Park unten war aus dunkelgrünem, mit Edelsteinen besticktem Samt, entlang der Straßen waren Straßenlaternen aufgereiht. Sie schauten zu, wie eine Welle aus grauem Licht – Morgengrauen, es muss das graue Licht des Morgengrauens sein, dachte Liz – sich von der Fifth Avenue herüber nach und nach über den Park ausbreitete. Bald war der halbe Park von der rauchig dunklen Leuchtkraft des Morgens erhellt, die andere Hälfte schimmerte dagegen noch in der schwarzgrünen Leere der Nacht. Liz hatte so etwas noch nie gesehen.
    »Es ist beinah Morgen«, sagte Coco.
    »Ja, mein Schnuckelchen.«
    Das Licht bewegte sich stetig voran, von Osten nach Westen, und bald war der gesamte Park vom aschenen Dämmerschein erleuchtet. Dann färbte der Himmel sich rosa, wurde allmählich immer intensiver, eine große rosa Welle rollte über den Park, und auf ihrem Kamm schwebte ein großer weißer Vogel.
    »Ein Habicht«, sagte Liz ganz aufgeregt. »Guck mal, Coco! Vielleicht ist es Pale Male.«
    Vielleicht war er es. Vielleicht war es der berühmte Rotschwanzhabicht, der sein Nest an der Fassade eines schicken Gebäudes an der Fifth Avenue gebaut hatte. Liz liebte diesen Habicht. Er trotzte dem urbanen Häusermeer und der Betonhaut, die die Erde umhüllte und erstickte, indem er seiner kleinen Familie genau da ein Heim baute, wo es ihm verdammt-noch-mal passte. Er hatte sogar den reichen, mächtigen Bewohnern des Gebäudes getrotzt mit ihrem Eigentümerversammlungsgezänke, ihren Streithammel-Anwälten und ihrer Meinungsmache in den Medien. All die großen Geschütze wurden aufgefahren, wegen eines einzigen Habichts mit seiner Gefährtin, und manche, die forderten, er solle verjagt werden, rissen sein Nest herunter und mussten es zum Entzücken derjenigen, die sich für ihn eingesetzt hatten, nach der ganzen schlechten Presse wieder aufbauen.
    Der tapfere, unerschrockene Habicht flog in weiten Bögen über den

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