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Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Titel: Die Zerbrechlichkeit des Gluecks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Schulman
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wie seine Schwester. Deshalb war sie auch älter als die anderen in ihrer Klassenstufe. Bei den meisten im Ausland geborenen Adoptivkindern war das so, wogegen Jake gleich von Anfang an zu den Jüngeren gehört hatte und jung für die Großstadt war. Eines Abends hörte er zufällig, wie die Mutter seines besten Freundes Henry zu seiner eigenen Mutter sagte: »In New York behalten wir die Jungs im Kindergarten, bis ihnen der Bart sprießt.« Die beiden Frauen saßen bei einem Glas Wein zu Hause bei Jake und waren schon leicht beschwipst. Wie Mütter eben beschwipst sind. Henry war auch da gewesen. Seine Mutter war vorbeigekommen, angeblich um ihn nach Hause zu schleppen, und den ganzen Abend hatte er Jake über ihre beiden Mütter hinweg genervt angeschaut, weil seine Mom nämlich diejenige war, die kleben blieb, nicht Henry. Henrys Mom Marjorie hatte sich noch mal nachgeschenkt und angefangen, mit gespitzten Lippen die Leiterin ihres Kindergartens, eine ehemalige Missionsschulleiterin, nachzuäffen: »›Ehrlich gesagt, sind Jungs in diesem Alter ein bisschen wie Neandertaler. Um sie in eine erstklassige Vorschule zu kriegen, müssen wir abwarten, bis ihr neurologisches System vollends ausgereift ist.‹« Darüber lachte Jakes Mom sich halb tot. Die ganze Szene brachte Jakes Mom mal zum Lachen, mal dazu, dass sie den Kopf darüber schüttelte. Allerdings kam sie ihm zur Zeit irgendwie recht einsam vor und hatte ja auch Wein getrunken, deshalb rief bei ihr fast alles die eine oder andere Reaktion hervor. Und Henrys Mom war wirklich total witzig. (Als Jake den Begriff »Ehemalige Missionsschulleiterin« gehört hatte, hatte er sich ein kleines Schulhaus aus rotem Backstein vorgestellt, aus dessen Schornstein lauter kleine Kinder eins nach dem anderen in Wölkchen – wie Rauchkringel – in den Himmel ausgestoßen wurden, während eine alte Dame peitschenknallend davorstand.)
    Als Jake es Henry anvertraute, nämlich dass er fand, Audrey sehe französisch aus, nicht, dass er sie mochte , als er, während sie eines Tages nach der Mittagspause im Gang an ihr vorbeigingen, leise sagte, Audrey Rosenberg hätte etwas an sich, was ihm ein bisschen französisch vorkäme, stieß Henry einen leisen Pfiff aus, dann flüsterte er Jake mit seinem scharfen Tortilla-Chips-Atem ins Ohr: »Chinois.«
    Als Jake später nach der Schule allein zu Hause in seinem Zimmer war, die Tür geschlossen, googelte er das Wort. Es war die Bezeichnung für eine Art Kochgeschirr, aber auch der französische Ausdruck für »chinesisch« und außerdem der Name eines Restaurants in Las Vegas. Jake war sich nicht sicher, ob dieses Wort – auf dem Schulkorridor geflüstert, in einer Wolke aus knallig orangegelbem Tortilla-Chips-Gebrösel – der schlagende Beweis für Henrys Raffinesse war oder für das absolute Gegenteil. Chinois . Das war das Problem und das Faszinierende an Henry als bestem Freund: das dialektische Ungleichgewicht zwischen Raffinesse und deren Gegenteil – wobei dialektisch ebenfalls ein Ausdruck war, der von Henry stammte. Aber Jake mochte solche Wörter, was unter anderem ein Grund dafür war, dass er Henry so gernhatte. Wenn sie sich unterhielten, verwendeten sie Wörter, die fast zu einer Geheimsprache zwischen ihnen wurden, denn die beiden hörten sich nicht so an wie all die anderen. Aber chinois . So, wie sich das unausgesprochene Lexem in seinem Mund anfühlte, passte es zu Audrey. ( Lexem war Jakes Ausdruck. Er hatte ihn nachgesehen, als ihm das Wort Wort zum Hals heraushing, für all die glitzernden facettenreichen, blank polierten Edelsteine, die er und Henry nun beinahe täglich zutage förderten, in einer Art edlem Wettstreit zwischen Gleichgesinnten und Rivalen.) Chinois . Exotisch, diaphan, erotisch – noch so eins von Henrys Favoriten, wie in »die ist e-ro-tisch «, mit dem er jedes Mädchen im zu kurzen Rock zu titulieren beliebte. An dem Ausdruck chinois war überhaupt nichts Anzügliches. Es klang irgendwie nach Upperclass. Sinnlich. Lüstern. Wie auch immer, es war jedenfalls das richtige Wort für Audrey.
    Die meisten Jugendlichen in Jakes Klassenstufe bewegten sich in Gruppen Gleichgesinnter. Wie früher in Ithaca. Wie vermutlich überall und zu allen Zeiten. Seine Mutter meinte, in ihrer Jugend sei das auch so gewesen. Oder im Fernsehen oder im Kino. Sportler waren mit Sportlern zusammen, Kiffer mit Kiffern, die einen spielten im Orchester, die anderen waren im Robotik- oder im Schachclub. Es gab aber auch

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