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Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Titel: Die Zerbrechlichkeit des Gluecks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Schulman
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konnte sie seine Schulterblätter erkennen, konnte sehen, wie der Bizeps seines rechten Arms sich beugte, während er die Kühlschranktür weit aufhielt und die ganze kalte Luft herausströmen ließ. Jake war ein schöner Junge, der viel zu schnell wuchs, mit behaarten Knöcheln, und sie liebte ihn. Wahrscheinlich liebte sie ihn zu sehr. Das hatte er ihr einmal gesagt, als er noch klein war. »Wirklich, Jake?«, hatte sie erwidert. »Liebe ich dich wirklich zu sehr?« Er hatte gemerkt, dass sie die Bemerkung traf, er merkte so etwas immer – und hatte gesagt: »Zu viel Liebe ist besser als gerade mal genug.« Er hatte Mitleid mit ihr gehabt. Sie liebte ihn viel zu sehr, aber im Augenblick war sie nicht in der Lage, sich mit ihm zu beschäftigen.
    »Ja, schon.« Jake nahm den Milchkarton hoch und hob ihn an die Lippen. »War schon ganz cool, ja.« Um sein Handgelenk war ein kleines rotes Band mit ein paar Perlen gebunden. Es sah läppisch aus, wie etwas, was Coco vielleicht tragen würde, oder vielleicht auch nicht.
    Liz hatte nicht die Kraft, ihn anzuschreien. Mach die Tür zu! Hör auf, Energie zu verschwenden! Nimm ein Glas! Sie brachte es einfach nicht fertig, seine unverbindliche Antwort zu hinterfragen. Sie drehte das Gas unter dem Wasserkessel ab, weil sie den Pfeifton wohl nicht ertragen könnte. Die blöde Kaffeepresse. Was gäbe sie nur für eine ganz normale Kaffeemaschine!
    Jake nahm einen großen Schluck Milch und stellte den Behälter wieder hinein. Dann drehte er sich zu ihr hin, dieser Junge, ihr Junge, schaute sie direkt an, und in seinen grünen Augen lag etwas … Gedemütigtes? Verängstigtes? Verwirrtes? Der Köder war ausgelegt, doch sie biss nicht an.
    Er sagte nicht: »Eh, Mom, kann ich mal was mit dir besprechen?« Er setzte sich nicht an den Tisch und wartete, dass sie sich ebenfalls hinsetzte, mütterlich besorgt und geschickt, um ihm wie so oft schon behutsam zu entlocken, was auch immer es war. Nichts von alledem geschah.
    Stattdessen sagte Liz: »Okay, okay, Mom hat einen Kater«, und drückte sich an ihm vorbei.
    »Weiter so, Mom.« Jakes Stimme war gleichzeitig sanft und eindringlich. Aber das bemerkte sie nicht, das bemerkte sie erst, als sie den ganzen Morgen rückblickend unter dem Mikroskop begutachtete und das Geschehen immer wieder begutachtete, und so ging sie in ihr Schlafzimmer, um sich von Cocos Party auszuschlafen. Das Bett war natürlich gemacht. Richard, der elende Mistkerl, hatte es sogar tadellos gemacht. Liz schlug es auf, schlüpfte aus ihrer Hose, hakte ihren BH auf und zog ihn durch einen Ärmel wie früher, wenn sie bei einer Freundin übernachtete oder in dem Sommer damals im Ferienlager. Dann schlüpfte sie zwischen die Laken, die kühl und straff ums Bett gesteckt waren. Richard war vermutlich schon im Büro – wo hätte er sonst hingehen sollen? Er hatte wahrscheinlich bereits zahllose Runden ums Reservoir gedreht, geduscht, sich umgezogen und war danach ins Büro gegangen, so wie jeden Samstagmorgen, seit sie hierhergezogen waren.
    Gestern Abend waren beide Kinder von Elizabeth Bergamot auf Partys eingeladen gewesen. Schlechte Mutter Liz! Sie hatte das falsche Kind beaufsichtigt. Sie musste ins Mommy-Gefängnis. Im wahrsten Sinn.

Kapitel 3
    E in Mädchen gab es, das er echt gern mochte. Sie hieß Audrey.
    Audrey war in seiner Klasse, aber wie fast alle anderen in der Schule war sie älter. Sie hatte kurzes, glattes, dunkles Haar, dicht und glänzend, schwarz wie ein Ölfleck. Es schmiegte sich perfekt um ihren perfekten Kopf, wie eine glänzende Onyxkugel. Audreys Haar war so geschnitten, dass es glatt und schimmernd fiel und sich erst an den Spitzen ihrer Ohrläppchen leicht nach innen bog, wie zwei Kommas sah es aus, wie seltsam sinnliche, winzige Spalten. Dieser leichte Schwung war es, der daraus Mädchenhaar, nicht Jungenhaar machte, und dieser Schwung – eigentlich war es eher ein Schwingen, eine Wellenbewegung, ein Zittern – machte Jake ganz verrückt.
    Jake fand, dass Audrey mit diesem Haarschnitt französisch aussah, obwohl er eigentlich überhaupt keine Ahnung hatte, was das heißen sollte – in Italien war er schon ein paarmal gewesen, aber noch nie in Frankreich. Eine Tante von ihm lebte in Rom. Wenn er nach Italien fuhr, tat er gern so, als wäre er Italiener. Er aß gern viel, und das Essen war ja so gut dort. Seine Tante Michelle ließ ihn Wein trinken und mit ihrer Vespa fahren, was seine Mutter fast wahnsinnig machte. Audrey war Chinesin,

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