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Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Titel: Die Zerbrechlichkeit des Gluecks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Schulman
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vierundzwanzigeinhalb Minuten Mittagspause.«
    »Alles okay?« Davis sah sie durchdringend an. »Ich hab mich nämlich immer gefragt …«
    Daisy überlegte besorgt, ob sie etwa bleich oder rot geworden war oder Tintenschmiere an der Stirn hatte, bevor ihr klar wurde, was er meinte.
    »Ach, ›das‹ meinst du?« Sie sah ihn verwundert an. Ihre Wangen brannten unter der Haut. Und dieses schreckliche Gefühl im Magen, das sie damals ständig gehabt hatte, als müsste sie sich gleich übergeben, war wieder da. »Das ist doch schon so lang her, inzwischen finde ich es bloß noch lustig.«
    »Cool«, meinte Davis. Und dann: »Was machst du denn hier in der Gegend?«
    »Ich arbeite hier«, sagte Daisy. »Ich meine, da drin«, sie deutete auf das Goldman-Sachs-Gebäude. »Und was machst du hier?« Sie errötete noch tiefer. Wieso hatte sie ihm bloß begegnen müssen?
    »Ich mache ein Praktikum in einer Anwaltskanzlei«, sagte er. »Und im Herbst beginnt dann mein Jurastudium. Ich treff mich jetzt gleich mit einem Kumpel zum Mittagessen. Er war auch auf der Wildwood. Erinnerst du dich noch an Zach Bledsoe?«
    So ein Dicker. Inzwischen ein ehemaliger Dicker. Einmal war es Daisy so gewesen, als hätte sie ihn bei den Aufzügen gesehen. Schwer zu sagen, weil er ja bloß noch die Hälfte von seinem früheren Selbst war. Sie erinnerte sich: Magen-Bypass, hatte sie gedacht, während sie schnell in den nächsten Lift huschte, um ihm nicht zu begegnen.
    »Apropos Mittagessen, jetzt hab ich bloß noch neunzehneinhalb Minuten«, sagte Daisy mit einem Blick auf ihre Uhr. »Also, bis dann.«
    Und auf ihren hohen Absätzen rannte sie Jakes Freund davon in Richtung Urban Lobster Shack.
    Sie glaubte zu hören, dass er ihr etwas hinterherrief, war sich aber nicht ganz sicher und mochte sich auch nicht damit abgeben.
    Daisy hatte es eilig und sowieso keine Lust, über all das groß nachzudenken. Sie dachte nicht gern an die beiden blöden Jahre, die sie fern von der Wildwood auf dieser blöden Mädchenschule in Dobbs Ferry verbracht hatte. Nach ihrer Rückkehr wurde es besser, da machte sich keiner mehr einen Kopf drum, und Jake war weg, überhaupt war ja sein ganzer Jahrgang weg, und bis sie wieder da war, hatten andere Kids noch viel schlimmere Sachen angestellt: Einer hatte sich vor eine U-Bahn geworfen, ein anderer bei einem Raubüberfall mitgemacht, bei dem ein Bulle gestorben war. Außerdem war da noch der Skandal um den Senator, dessen Zwillinge noch in der Middle School waren. Doch während Daisy am Mitnahmeschalter auf ihr Hummerbrötchen mit Chips und Krautsalat und den Bio-Eistee wartete, dachte sie wieder an den ersten Sommer danach. In dem Jahr waren sie viel gereist, sie und ihre Eltern. Das Einzige, was konstant blieb, egal, in welchem ihrer Häuser sie auch waren: Daisys Fenster hatten immer Ausblick aufs Wasser.
    Zu Hause sah sie das metallische Blau des Hudson, auf Martha’s Vineyard die Schaumkronen auf dem eisig silbrigen Atlantik, und in Frankreich war alles ein einziges, reines weites Azurblau, Himmel und Wasser und der Horizont, an dem sie sich trafen.
    Nun fiel ihr wieder ein, was ihre Mutter gesagt hatte: »So ist der Strand hier nämlich zu seinem Namen gekommen: Côte d’Azur.« Was Daisy, hätte man sie gefragt, bloß mit »Na, so was« quittiert hätte, aber sie fragte ja niemand.
    Stattdessen hatte sie viel Zeit damit verbracht, keine Bücher zu lesen, sondern iPod zu hören, in Zeitschriften zu blättern und einen großen Bogen um den Computer zu machen – damals durfte sie nur an ihren Computer, wenn ein Erwachsener danebensaß, und selbst ihre Eltern hatten es irgendwann satt, dafür ständig irgendwelche Leute anzuheuern. Für Babysitter war Daisy viel zu alt, das wussten alle und hatten ziemlich bald genug von diesem Spielchen. Die meiste Zeit lag sie bloß auf dem Bett oder saß in einem Sessel am Fenster, schaute hinaus auf das jeweilige Gewässer, das sich da endlos vor ihr erstreckte, und dachte an ihn.
    Manchmal schrie sie ihn in diesen Fantasien laut an. Manchmal trat sie ihm in die Eier oder rammte ihm sogar ein Messer in den Bauch, dass Blut und Gedärme herausquollen. Die Erinnerung an ihre Träumereien war jetzt nicht mehr peinlich. Was war ich für eine kleine Idiotin, dachte Daisy. An eine Fantasie erinnerte sie sich ziemlich genau, in der sie ihn mit Scheiße bewarf, mit großen dicken Klumpen von Kuhfladen oder Pferdemist (auf Martha’s Vineyard hatte sie ein Pferd und spielte manchmal

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