Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
Park.
»Oder vielleicht ist es auch eine Taube, Momma«, sagte Coco. »Der Vogel ist ja furchtbar klein.«
Ja, vielleicht war es das. Liz küsste Coco auf den Nacken, direkt über der winzigen Zigarettenbrandwunde, die wie eine Besitzersignatur in ihre weiche Haut eingeschrieben war. Nicht jeder chinesische Säugling in ihrer amerikanischen Adoptivelterngruppe besaß eine derartige Narbe. Die Dolmetscherin, die sie ins Waisenhaus begleitet hatte, hatte damals behauptet, Narben wie die von Coco sollten wie individuelle Tätowierungen gelesen werden und seien nicht etwa dazu gedacht, den leiblichen chinesischen Müttern bei einer zukünftigen Identifizierung ihrer Sprösslinge zu helfen, wie Liz und die anderen Adoptiveltern zunächst besorgt geargwöhnt hatten. Es gehe vielmehr darum, dem möglichen Finder des Kindes die Botschaft zu übermitteln, dass eine schreckliche Verkettung von unglücklichen Umständen die leibliche Mutter gezwungen habe, ihr Baby wegzugeben, sie aber immer auf diese Weise mit ihm verbunden bleibe.
Als Liz sie an dem Morgen schließlich nach Hause geschafft hatte – zum Teufel mit dem samstäglichen Ballett- und westafrikanischen Tanzunterricht, das war sowieso jedes Wochenende ein ewiges Gezerre –, lag die Kleine regelrecht im Koma. Im Taxi schlief sie ein, und Liz musste ihr auf dem Weg in die Wohnung mit einer Hand unter die Arme greifen, dabei mit der anderen irgendwie das Übernachtungsgepäck bugsieren, und sie wie Frankensteins Monster in den heimischen Bau geleiten. Coco wachte überhaupt nicht richtig auf. » Jetzt schläfst du«, murmelte Liz leise vor sich hin. In der Wohnung angekommen, schleppte sie Coco in deren Zimmer und warf sie aufs Bett. Ihr eigener Mund fühlte sich pelzig an, als hätte sie tausend Zigaretten geraucht. Ihr Körper stank, Alkohol drang aus sämtlichen Poren, obwohl sie erst vor anderthalb Stunden in dem schönen Marmorbad im Hotel geduscht hatte. Das Wasser war so heiß gewesen, und die Seife hatte so teuer und so gut gerochen. Sie hatte sich so sauber gefühlt!
Es ließ sich nicht leugnen, nicht in dem Augenblick und auch nicht später beim schuldbewussten Rückblick: Liz war griesgrämig, zerzaust und verkatert, als sie in ihre Küche ging, um Kaffee zu machen. Sie war sich gar nicht sicher, ob sie ihrer kleinen Tochter eine märchenhafte, unvergessliche Nacht geschenkt oder die Erwartungen des Kindes für immer wahnsinnig übersteigert hatte. Sie war jemand, die, hätte man ihr in dem Moment eine Pistole an den Kopf gehalten, nicht in der Lage gewesen wäre, sich an den Untertitel ihrer eigenen Dissertation zu erinnern. Der Titel lautete »Modernismus im Fluge«, so viel wusste sie noch. Sie hatte sich dabei ganz schön abgekämpft und besorgt überlegt, ob ihr Thema womöglich zu speziell war, wo sie sich doch für so viele Bereiche der Kunstgeschichte leidenschaftlich interessierte. Es war eine Abhandlung über Bühnenbild und Kostüme der Ballets Russes. Ihre Dissertation hatte sich dadurch ausgezeichnet, dass sie einen ganz neuen, radikalen Fokus auf die Synthese von Kunst, Design und Tanz gerichtet hatte. Und jetzt kam sie nicht mal mehr auf den Untertitel! Aus irgendeinem Grund war ihr auf der Taxifahrt nach Hause genau diese Frage in den Sinn gekommen. Wie lautete er noch gleich? Sie wusste es nicht mehr. Sie wusste den einleitenden Satz nicht mehr. Krampfhaft versuchte sie, sich an den Anfangssatz der Dissertation zu erinnern, die sie vor so vielen Jahren selbst geschrieben hatte. Es war so ewig her, dass es sich anfühlte, als müsse, was auch immer sie geschrieben hatte, einem anderen Hirn entsprungen sein, einem Hirn, das ihr aus dem Körper gesaugt worden war und nur das Gerüstwerk übrig gelassen hatte. Sie war an dem Morgen einfach nicht im Mutter-Modus. Sie war fertig damit, es reichte ihr. Liz’ Antennen waren bedauerlicherweise nicht ausgefahren.
Ganz und gar nicht ausgefahren.
Jake kam herein, als sie gerade den Teekessel auf den Herd stellte. Er trug immer noch sein Coldplay-T-Shirt vom letzten Abend, dazu seine Flanell-Schlafanzughose. Die übrigens zu kurz war. Vor fünf Wochen hatte Liz sie lang genug gekauft, doch jetzt lugten seine neuerdings behaarten Knöchel unten heraus. Er hatte es also unbeschadet nach Hause geschafft. Er hatte sie nicht gebraucht. Alles war in Ordnung.
»War’s schön gestern Abend?«, erkundigte sie sich, während er den Kühlschrank aufmachte und den Inhalt überprüfte.
Durch sein T-Shirt
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